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Frühes Trauma
kann später
fatal nachwirken

Uni-Vorträge: Auftakt mit Driessen


Bielefeld (sas). Zehn bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind in jungen Jahren traumatisiert worden, haben physische Gewalt, sexuellen Missbrauch oder emotionale Vernachlässigung erlebt. Unter den Folgen leiden sie oft noch als Erwachsene.
»Ihr Risiko einer psychischen Erkrankung ist vier- bis sechsmal so hoch wie das anderer Menschen, die Wahrscheinlichkeit, dass sie Alkohol- oder Drogenmissbrauch betreiben, dreimal so groß«, sagt Prof. Dr. Martin Driessen. Der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bethel hat am Mittwochabend in der Universität über frühe Traumatisierung und Borderlinepersönlichkeitsstörung gesprochen. Sein Vortrag war Auftakt einer neuen Veranstaltungsreihe über Traumafolgen und -verarbeitung. Sie richtet sich an Psychotherapeuten, Ärzte, Wissenschaftler und Studierende, ebenso aber an jeden Interessierten.
Die frühe Traumatisierung, oft komplex, wiederholt und über einen längeren Zeitraum Realität für junge Menschen, führe nicht selten zu Aggressionen, zum Sich-Zurück-Ziehen oder zu selbstverletzendem Verhalten, erläutert Driessen. Gerade letzteres sei typisch für junge Frauen mit Borderline-Störungen, die emotional instabil sind und auch instabile Beziehungen haben.
Dabei ändert sich als Folge einer Traumatiseirung nicht nur der Anteil der Stresshormone: »Neue bildgebende Verfahren beweisen die Folgen einer Traumatisierung auch im Gehirn: Hirnstrukturen und Hirnfunktion sind verändert.«
Das gilt nicht nur für chronische Traumatisierungen, sondern auch für ein akutes Trauma. »Jeder zweite Mensch erlebt so etwas irgendwann. Das kann ein Verkehrsunfall sein, eine Gewalttat oder Vergewaltigung, also eine Situation, die als Bedrohung für Leib und Leben empfunden wird und Furcht, Entsetzen und Hilflosigkeit auslöst.« Dabei genügt es auch, Zeuge eines solchen Geschehens zu sein.
»70 Prozent der Betroffenen überstehen das Ereignis unbeschadet. Fast jeder Dritte aber entwickelt eine posttraumatische Belastungsstörung«, sagt Driessen. Die kann prompt oder aber erst nach Monaten auftreten - und wird unter Umständen nicht mehr mit dem Ereignis in Verbindung gebracht. Leicht ist das, wenn »Flash-backs« auftreten, der Betroffene sich immer wieder ungewollt an das Geschehen erinnert oder davon träumt. Andere entwickeln plötzlich Vermeidungsstrategien und gehen allem aus dem Weg, was an das traumatisierende Geschehen erinnert. Wieder andere haben entweder das Gefühl, betäubt zu sein, oder sie reagieren übererregt, sind reizbar oder schlaflos.
Fünf bis sieben Prozent der Betroffenen in Westeuropa leiden an dieser posttraumatischen Belastungsstörung, ein Drittel davon wird depressiv. »Ihr Leben ist schwer eingeschränkt, nicht selten werden sie früh berentet«, erklärt der Facharzt. Wichtig sei daher, diese Menschen so früh wie möglich zu therapieren, damit die Traumatisierung nicht chronisch wird. »Wir haben heute gute psychotherapeutische Methoden, und zuweilen werden unterstützend Medikamente verordnet.«

Artikel vom 20.01.2006