23.02.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Sieh mal, lieber Onkel, es gibt Berufe, um deretwillen man auf die Welt kommt, und solche, die man ausübt, um mit Anstand auf der Welt zu sein; die letztern sind verpflichtend, nur die erstern erfüllen sich von selbst. Du wirfst mir natürlich mit Recht vor, daß ich bisher keinen Beruf ordentlich ausgefüllt habe. Aber das ist auch sehr schwer, solange man keinen wichtigen Grund hat, auf der Welt zu sein. Jetzt aber werde ich mit Freuden Haus Brocke bewirtschaften, und ich hoffe, du wirst keine Ursache haben, einen Niedergang des Gutes festzustellen.«
Wäre Erich mit diplomatischen Absichten gekommen, hätte er nicht geschickter dem Onkel eine Waffe um die andre aus der Hand listen können.
Dem Hauptmann stand eine Träne in den Augen.
Und obgleich er nicht durch Worte seine Niederlage besiegelte, gab er doch dem Neffen die Hand und beschloß damit die Unterredung.
Erich wunderte sich selbst über seine Ruhe und Sicherheit, die den Onkel besiegt hatte. Aber wie sollte er nicht ruhig und sicher sein! Er selbst genoß dies Gefühl, denn es war früher oft anders gewesen; früher - aber das lag nun soweit zurück. Hatte er nicht von Kind auf sich manchmal bei einer kleinen Angst ertappt, Anna gegenüber? Er hätte es natürlich nie merken lassen, sondern, wie man im Dunkeln laut redet, damit der erschrickt, vor dem man sich fürchtet, so war er gerade dann unfreundlich und kränkend zu Anna gewesen, und er konnte das Verhältnis erst wiederherstellen, wenn sie so traurig war, daß er als Friedenspender auftreten mußte. Diese kleine empfindliche Angst kam daher, daß er Anna manchmal ernste strenge Ansichten abfühlte, die ihn störten. Noch, als er längst erwachsen war, störten sie ihn; manchmal mußte er sogar an sie denken, wenn er einer seiner eleganten Freundinnen einen Kuß gab.

J
etzt aber hielt er Anna selbst in seinen Armen, und sie störte ihn gar nicht mit ernsten, strengen Anschauungen, wenn er sie küßte. Und wenn er sie noch wilder küßte, störte sie ihn auch nicht É
Sie waren zusammen über die Felder gegangen. Über die Grenzen von Brakenhorst hinaus, bis auf einen Hügel, wo man Haus Brocke sehen konnte. Der verhüllte Frühling richtete sich manchmal an einem wachen Stückchen Waldes auf und zog wieder graue, daunige Wolken über sich.

Erich betrachtete das Land, und er merkte, daß er jetzt auch seine Heimat fühlte und daß er sich darauf freute, einst auf diesem Boden seine Erfolge und Sorgen wachsen zu sehen. Anna wußte ja gar nicht, daß sie hier wohnen würden; sie hatte nie so etwas gefragt; als wäre es ihr ganz gleichgültig, wohin sie ihm folgen sollte. Eigentlich wartete er immer auf den Augenblick, auf die Überraschung, wenn sie hörte, daß sie in ihrer Heimat bleiben würde. Aber sie fragte nicht danach; all ihr Lieben und Glück galt nur ihm allein.
Die Luft war weich und regnerisch; ermüdend. Als sie wieder zu Hause waren und nebeneinander saßen, lag Annas Kopf lange auf seiner Schulter. Er wollte sie aufrichten zu einem Kusse. Aber ihr Kopf blieb auf seiner Schulter liegen. Erich wartete noch ein wenig. So war es doch die Heimat gewesen, die eben ihre Rechte geltend gemacht! O, er konnte diesen Kopf auf seiner Schulter sofort aufrichten - wenn er nur das von Haus Brocke sagte; aber - gehörte dann ihr Lieben und Glück noch ihm allein?
Jetzt rückte er ein wenig zur Seite und nahm sie und küßte sie auf den Mund und küßte sie wieder und hielt ihren Kopf zwischen den Händen. Sie aber sah steil nieder, damit er ihre Augen nicht sehen sollte.
Jetzt mußte er es wohl sagen.
»Anna - ich weiß - du und deine Heimat - aber ihr braucht euch nicht zu trennen.«
O, wenn er nur nichts sagte, und nur jetzt nicht sie küßte, dachte sie; denn es war, als faßte er damit ganz tief in ihre Seele und holte etwas heraus, was sich da hineingeschlichen hatte, unbemerkt. Er aber küßte sie wieder. O, nun war es da - eine richtige Traurigkeit. Was sollte das!
»Hast du gehört, Anna? Wir werden hier leben, in Haus Brocke.«

Sie hatte es gehört. Aber ihr Gesicht verklärte sich nicht in Jubel, wie Erich erwartete. Er mußte es noch einmal sagen. »Hättest du das gedacht, Anna? Ich werde künftig Haus Brocke bewirtschaften.«
Nein, das hätte sie nicht gedacht. Aber sie sagte kein Wort, sondern sah immer noch steil vor sich nieder. Und da lag ihr Kopf auch wieder auf seiner Schulter.
»Anna, was ist denn?« fragte Erich, nun wirklich aus seiner Ruhe und Sicherheit gestört. Aber was sollte sie sagen! Sie hatten doch all die Tage sich nie etwas zu sagen brauchen, weil sie alles voneinander wußten - alles bis auf diese winzig kleine Traurigkeit, die sich in ihre Seele hineingeschlichen hatte.
In solchen stummen, schwülen Augenblicken treibt die Traurigkeit aus ihrem Samenkorn plötzlich heraus zu ihrem bleichen, erschreckenden Dasein.

A
nna blickte zu ihm auf. Da hatte er ja wieder den Blick in den Augen und die zwiespältigen Mundwinkel; die waren doch all die Tage nicht mehr; oder hätte sie es nur nicht gesehen?
Ihre Schultern strafften sich. So, in dieser gleichen Haltung, stand sie ihm neulich gegenüber, als sie kämpfen wollte gegen diesen Blick; der sie dann so jäh überwältigte und - beglückte.
Er wollte sie jetzt wieder zwingen, so wie neulich. Seine Hände auf ihrem Rücken preßten sie noch immer fester an seine Brust. Er hatte große, beruhigende Hände. Aber sie machte sich los mit einer harten Bewegung, obgleich sie fühlte, daß ihre Schultern kraftlos in sich herabsanken.
»Aber, Anna!« Er hielt sie fest ums Handgelenk, daß es ihr wehe tat.
Ihr war, als sänken ihre Schultern immer noch tiefer. Plötzlich lag ihr Kopf wieder auf seiner Schulter.
Und sie sagte etwas, ohne daß die Worte ihren Weg über die Gedanken nahmen. »Ich - kann dir nicht gehören - wenn É«
Erich ahnte, daß der Andre vom Gartenfest im Spiel war und machte ein sehr scharfes Gesicht, so daß der Zug um Auge und Mundwinkeln noch deutlicher hervortrat. Sie stockte; denn es war schwer, deutlich zu sagen - »wenn - du nicht auch die große Liebe meinst.«
Erich konnte wirklich nicht verstehen.
»Was willst du denn? Waren wir denn nicht glücklich all diese Tage?«
Anna nickte. »Doch. Aber es war nicht genug.«
Seine Hand um ihr Gelenk tat ihr so weh, daß sie hätte aufschreien mögen. Er aber hätte sonst nicht sprechen können, denn er brachte die Worte nur noch leise, ganz ohne Stimme hervor. »Ist es doch noch der Andre?«
Anna schüttelte den Kopf und sah ihn vorwürfig an - daß er so etwas denken konnte! »Nein. Aber - du fühlst auch nicht die große Liebe, die fromm ist und heilig und die hinabreicht bis zum Herzen der Erde.«

Erich war beruhigt, daß es nicht der Andre war, und ließ ihrem Handgelenk etwas Luft. Aber unbehaglich war es doch; es regte sich ein alter Widerstand aus der Knabenzeit gegen ihre Bekehrungsversuche. Die hatte er doch mit seinen Küssen bezwungen!
»Wie meinst du das?«
Sie mußte es noch einmal sagen. Und sie versprach sich dabei vor Eifer und heißer Erregung. Sie entzündete sich selbst an der großen Liebe, für die sie kämpfte, so daß er plötzlich diese große Liebe ganz hell und leuchtend vor sich sah.
Seine Hand fing an, sanft über ihre Hände zu streichen. Mehr sagte er nicht. Erst als sie wieder beruhigt und gelöst in seinen Armen lag.

A
nna! Du willst immer, daß alles richtig und ganz und fertig ist. Nun mußt du lernen, dich zu begnügen, mit dem was werden kann. Sieh mal, wie sollte ich denn von der großen Liebe wissen? Aber - wenn ich mich danach nicht doch gesehnt hätte mit einem verborgenen ruhelosen Heimweh, dann hätte ich mich doch nicht nach dir gesehnt.«
Sie sah ihn erstaunt an, und es kam über sie wie ein Horchen in vergangene Zeit; denn sie fühlte, daß nun all ihre unstete Sehnsucht nach einer herrlichen, beglückenden Aufgabe ein Ziel gefunden hatte, groß genug für ein ganzes Leben: zu wachsen in dieser Liebe, von der sie wußte, und so schön an ihr zu werden, daß auch er diese Liebe erkennen mußte und an sie glauben.
Die Vorahnung von heiliger Erfüllung breitete sich über ihr Antlitz. Sie hob den Kopf zu ihm und sah, daß seine Augen wie von hellem Widerschein glänzten und daß seine Mundwinkel zitterten von einem neuen Wissen.
Nun ward er überwältigt.
Und es war, als hielte er sie zum erstenmal in seinen Armen.



Vierundzwanzigstes Kapitel

Die Tage wurden wieder länger und der Saft stieg in den Bäumen. Der Wille zum Frühling wuchs unter der Erde.
Und er kam. Man mußte nur oft lange auf den Frühling warten in diesem schweren, niedern Lande.
Von der Schlüsselblumenwiese kam er, wo er früher gewohnt hatte, mit gelben Osterblumen, die strahlend im braunen Rasen standen, und mit kleinem, weißem Sauerklee, der so fein und schüchtern ist, daß er sich unter dem kahlen Gebüsch verkriecht.
Und nach einer feuchten Sturmnacht kam er mit dem aufregenden Birkenduft vom Walde. Da ließ der Himmel sein ernstes, nachdenkliches Grau langsam zur Erde niederfallen, damit sie all seine schweren Träume aufbewahre für künftige Zeiten, da alles vergessen wird über dem heißen Daseinsglück - alles, was ernst ist und kühl-besonnen.
Die Wolken schoben sich übereinander, zehnschichtig und mehr, denn immer konnte die neue noch heller sein und deutlicher den blauen Himmel neben sich zeigen É

H
atte Anna wirklich einmal denken können, hier gäbe es keinen Frühling? Sie war doch selbst beteiligt am Aufblühen jeder Blume, am Grünen jedes Baumes! Denn der Frühling erlöst die Welt zu einer glückseligen Gemeinschaft.
Und der Frühling wurde immer reicher. Das Korn ward sich seiner Bestimmung bewußt und streckte sich aus der weichen, wehenden Saat zu aufrechten Ähren.
Anna hatte noch nie den Dampf gesehen über dem Roggenfeld. Sie dachte: es brennt in Harvelinghausen. Und sie mußte die Augen schließen, als wäre es ein scharfer Qualm, der wehe tat. Dann aber verstand sie aus dem selig betäubenden Duft, daß das Kornfeld seine Liebe feierte.
Und der Sommer war stärker als der Frühling.
Man kann ihn nur ahnen, wenn man selbst noch Frühling ist. Mit brennenden ungeduldigen Augen sieht man den Junirosen zu, die früh mit der Sonne sich öffnen und abends bei ihrem Sinken langsam die Blätter zu Boden fallen lassen.
Unbegreiflich ist der Sommer mit seinem mühelosen Blühen... Ende

Artikel vom 23.02.2006