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A
uf jedem Gute gibt es eine Abendbrotglocke.
Sie sahen sich erschrocken an. So hinüberzugehen war unmöglich.
»Wenn du hier bleibst, hab ich vor nichts Angst«, meinte Anna; aber der Vater - nein, es ging nicht. Wer soll es überhaupt den Eltern sagen? Das beste war doch, Erich ging nach Hause und Anna würde einen guten Augenblick abwarten und zu den Eltern sprechen. Der Vater hätte Erich ja gar nicht angehört.
Und Anna ging zum Abendbrot.


Hatten die Eltern denn etwas gemerkt? Gewiß. Was für ein Unheil es war, konnte man allerdings nicht wissen; aber die Anwesenheit eines Unheils war deutlich zu merken; und Hängeuhr und Lampenschirm waren schon wieder in Mitleidenschaft gezogen. Zum Unglück machte Frau Sophie auch noch eine liebenswürdige Anstrengung, die schmerzliche Stille zu lindern; sie sprach vom Nachmittagsspaziergang und versuchte wieder, Erichs neuer Tätigkeit eine gute Seite abzugewinnen. Aber der Onkel hatte kein Verständnis dafür; denn Erich hatte ja nicht bei ihm seinen Arm eingehängt, sondern bei der Tante. Anna sah die beiden vor sich, wie sie über das Feld gingen. War das wirklich erst vor wenigen Stunden gewesen? Ihr kam plötzlich ein Gedanke: Hatte Erich dies Arm-in-Arm vielleicht getan, um ihre Mutter freundlicher zu stimmen? Aber nein, das wußte sie zu genau, das hatte er nur getan, um ihr wehe zu tun. Wie sonderbar war doch alles - »ich wüßte keinen Menschen, der mir so weh tun könnte wie er«, dachte sie, »und gerade ihn muß ich lieben; so war es doch von Kindheit an.«


Was ist dir, Anna?« fragte die Mutter nach Tisch. Und Anna ging mit ihr und sagte ihr alles.
Es gibt Ereignisse, die freudig stimmen, selbst wenn sie in allen Einzelheiten nicht wünschenswert sind. Schon daß es sich nicht wieder um etwas handelte, wie Molkerei bei der Jürgenpott, oder Krankenpflege, das war schon allein für Frau Sophie ein Glück. Der Wunsch zu heiraten aber ist ein Entgegenkommen der Tochter, das jedes Mutterherz schneller schlagen läßt, selbst wenn der Erwählte solch hohen Rhythmus nicht ganz rechtfertigt.
Frau Sophie war sogar bereit, mit dem Vater zu sprechen.


N
iemand war zugegen bei dieser Unterredung. Dennoch wußte das ganze Haus, daß etwas Schreckliches vorgefallen war. So voll Zorn und roten Ärgers hatte Anna den Vater lange nicht mehr gesehen; vielleicht nie mehr seit jenem Kindheitsschrecken, als sie mit Erli von Karoline gekommen war und zuviel Pickert gegessen hatte. Immer, wenn sie ihm begegnete, dachte sie: jetzt kommtĂ•s. Aber es war fast noch schlimmer, daß er nichts sagte.


F
rau Sophie war zu sehr in ihren feierlichsten Muttergefühlen gestört worden. Sie machte ein so gekränktes Gesicht, als handle es sich um ihre Wahl, die nicht anerkannt wurde. Sie brauchte sogar heftige Worte gegen den Vater, als sie Anna dessen Urteil wieder erzählte. Erstens: Vetter und Kusine. Die Mutter konnte ja nichts dagegen sagen; doch um so mehr bedarf solch ein trauriger Grund des liebevollen Hin- und Herschiebens, bis man ihn glücklich an die wenigst schädliche Stelle gerückt hat. Zweitens: Erich ist zwei Jahre jünger; und drittens die logische Folge davon: daß er völlig unreif ist. Überhaupt welch eine unverschämte Idee: ein Schlosser - und will seine Tochter heiraten! Dieser dritte Punkt war so unerhört, daß eins und zwei dagegen als harmlos verschwanden; aber unglücklicherweise gab es keinen weiteren, der wiederum diesen Punkt drei verwischt hätte; der blieb ungemildert, brannte aus jedem Blick und klang schrill aus jedem Wort des Vaters, und wenn er bei Tisch nur das Salz verlangte.
O diese Mahlzeiten!

Doch Frau Sophie litt mehr darunter als Anna. Deren größte Sorge war im Grunde doch das nächste Wiedersehen. Der Vater sprach ja nicht, verbot nichts, aber erlaubte noch weniger.

U
nd Anna sagte Erich von des Vaters Ablehnung. Ihr schienen natürlich die zwei ersten Gründe die gewichtigeren; denn sie wußte ja nicht, daß der Vater sie durch den großen dritten verkleinert hatte. Erich hörte ruhig zu. Seine hohe, ernsthafte Stirn veränderte sich nicht einmal. Dann sagte er: »Gewiß, diese Einwendungen haben Berechtigung, aber sie kommen nur bei solchen in Betracht, für die es keine wichtigeren gibt; die ebensogut jemand anderes lieben können.«
Dann verstummte die sachliche schwierige Unterredung wieder vor einer besser begreiflichen Art der Verständigung.


Dreiundzwanzigstes Kapitel


Erich hörte nicht mehr auf die Warnungen der Tante. Er wollte die Sache selbst in die Hand nehmen, und er ging mit männlichen lauten Schritten die Treppe hinauf und klopfte an des Onkels Arbeitszimmer.
Auch der gefährlichste Zorn hat seine schwache Stelle.
Es war dem Hauptmann sehr unangenehm, wenn sich jemand zu ihm hereinwagte, solange seine beharrende Stummheit mehr erschreckte, als seine Worte es vermocht hätten. Und jetzt stand dieser dreiste Bengel vor ihm - der Schlosser. Sehr vornehm in seinem Sonntagsanzug, mit freundlich-ernstem Gesicht, das einen guten, beherrschten Ton voraussetzte. O, es war dem Hauptmann sehr unbequem zumute. Er holte Atem, als wär ihm sein Wind- und Wetterrock plötzlich über der Brust etwas zu eng geworden.
»Ich möchte mir dir sprechen, lieber Onkel.«


D
as »lieber Onkel« hatte noch einen peinlichen Klang aus der Knabenzeit, als es immer dann gebraucht wurde, wenn etwas gegen den Willen des Onkels durchgesetzt werden sollte. Der Hauptmann holte infolgedessen wieder Atem. Wenn er jetzt etwas gesagt hätte, und wäre es etwas noch so Zorniges gewesen, hätte es die Unterredung sehr erleichtert. Aber das wußte er - und schwieg. Deshalb tat Erich eine Frage.


E
s ist dir wohl keine Überraschung«, der Onkel griff in Gedanken aus - doch Erich sagte nicht, »daß ich Anna heiraten will«, sondern nur: »daß Anna und ich uns lieben.« Da war nichts zu tun, als wegwerfend aufzulachen. Aber der Onkel wurde noch mehr gehemmt: denn sein Neffe selbst betonte die Schwierigkeiten, Punkt eins und zwei, die er selbst lange nicht mehr so wesentlich fand. Darum überging er sie eilig, um wenigstens Punkt drei zu erreichen, bevor Erich sich seiner bemächtigte. »Ich finde es eine Unverschämtheit, in deiner Lage um die Hand eines Mädchens anzuhalten! Und ich gebe dir den guten Rat: Überlege dir in Zukunft solche Dummheiten; sonst könntest du mal eklig rausfliegen.«
Aber das, was ihn am meisten erleichtert hätte, sagte er doch nicht: »Du Schlosser!« Das ging nicht, weil Erich so hübsch und elegant und geradezu bescheiden und vertrauenerweckend vor ihm stand.
»Du meinst, weil ich keinen entsprechenden Beruf habe, lieber Onkel?«
»Allerdings. Deshalb. Erst wird das ganze Vermögen zum Teufel gejagt« (er nannte wieder die lange Summe) »und dann, statt sich wenigstens eine anständige Lebensführung zu retten, geht man hin und arbeitet ganz sinnlos wie ein Knecht in einer Schlosserei.«


E
rich wollte etwas sagen, aber der Onkel verbot es mit der Hand, denn nun kam die Hauptsache: »Diese ganze Fliegerwirtschaft soll mir gestohlen bleiben - wenn einem auf der Erde der Boden unter den Füßen heiß wird, geht man in die Luft; jawohl. Ich erlaube nicht, daß meine Tochter eine derartige Existenz heiratet.«
Wenn Erich hierauf mit einer Verbeugung folgsam hinausgegangen wäre, hätte der Hauptmann ihn gewiß zurückgerufen; denn jetzt war seinem Zorne Luft gemacht und sein Neffe gefiel ihm eigentlich in seiner ruhigen, sicheren Art. Die war ihm noch nie so aufgefallen. Denn es geschieht selten, daß Eltern und Verwandte solche Entdeckungen machen an ihren nächsten Angehörigen.
Aber das durfte er natürlich nicht zeigen.
»Wie dachtest du dir das eigentlich?« fragte er noch sehr streng.
Erich machte ein wirklich betrübtes Gesicht. »Ja, natürlich - ich weiß - ich habe einer Frau nicht viel zu bieten.« Er wurde rot, und ganz jungenhaft brummte er zwischen den Zähnen: »Es ist eine Gemeinheit!« Der Hauptmann dachte, wenn er lieber damals so gewesen wäre, als er ihn so wütend geärgert hatte durch seine unzerknirschbare Art, statt wie es sich gehörte, dem entschwundenen Vermögen nachzutrauern.
»Allerdings - ich habe ja noch Haus Brocke«, sagte Erich.
»Was nützt das, möchte ich wissen, wenn du dich nicht drum kümmerst und kein bißchen Interesse dafür hast!«


E
s war gut, daß jetzt wenigstens alles zur Geltung kam, was man früher nie recht anbringen konnte.
Aber es gibt Schelte, die durch langes Aufbewahren faul wird.
»Kein Interesse?« Erich lächelte ein feines, erwachsenes Lächeln.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.02.2006