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Und drüben, jenseits des Horizontes, den Milius mit seiner Herde bewachte, dort, wohin einst die sehnsüchtigen Blicke wanderten, da lag nun nicht mehr der fremde, betäubende Frühling, sondern da lag das braune, kräftige Land der wartenden Aufgaben.


Zweiundzwanzigstes Kapitel


Zu Ostern kam Erich nach Haus. Er war sehr verändert. Aber sein ernstes Gesicht wußte nichts von jener Reue, die Onkel und Tante wünschten; seine schlichte, beschwerliche Arbeit hatte andre Einsichten in ihm geweckt. Darüber sprach er oft in Fortsetzung irgendeines Tischgespräches, dem ursprünglich solch unbequeme Laufbahn nicht beschieden sein sollte.


Kein Urteil über gut und böse, recht und unrecht, war sicher vor ihm. Er legte alles genau auf seine große offene Hand, um den andern etwas zu zeigen. »Wir treten ein Erbteil fertiger Begriffe an«, sagte er, »die müssen wir erst verschleudern, um ihren eigentlichen Sinn zu begreifen.«Bis dahin hätte man ruhig zugehört, wie einer naturwissenschaftlichen Bemerkung; nun aber brachte er zum Erklären seine persönliche Erfahrung: »Ich habe mit dem Begriff der Arbeit angefangen«, und er leuchtete auf vor Glück darüber, endlich ihr schwerverständliches Wesen zu begreifen; »jetzt bin ich daran, der ererbten Wahrheit ein Ende zu machen und mir eine neue, gewissere zu verschaffen. Das ist nicht so einfach wie mit der Arbeit am Schraubstock, und es wird lange dauern, bis man auf ihren ersten Anfang hinabgestiegen ist.«


A
nna betrachtete ihn aus großen unruhigen Augen. War das Erli? Nur weil er ein Mann geworden? Sie kannte doch viele; aber an keinem hatte sie dies zu erkennen vermocht, was nun vor ihr stand: Des Mannes Strenge. Zwischen den Brauen stand sie auf Erichs Stirn; Strenge, die einen ansieht aus unerbittlichen Augen, und doch so angenehm befreiend, weil sie so tief heraufkommt, daß sie keine Furcht mehr gibt, nur diesen demütigen Wunsch: zu bestehen vor ihr.

A
nna hätte ihm jetzt alles sagen können, was ihr die Seele bedrückte, und fragen - fragen. Aber wenn sie es einmal versuchte, ging es doch nicht, denn dann hatte er immer wieder den unangenehmen Zug um den Mund, wie damals in Berlin. Und sie ging von ihm in einer neuen, unbekannten Traurigkeit. Nun fühlte sie ein Wachstum neben sich, das ihre Sehnsucht gewesen von Kind an, das sie geliebt hatte in jedem Baum, in jedem Feldstreifen ihres heimatlichen Bodens; und jetzt tat sich dieses Wachstum auf in einem Menschen, kam hervor aus einer schlichten, feinen Seele und erhob sich weit über diesen dunklen Boden, bis in unbekannte Welten reichend, in eine größere, neue Heimat. Sie aber sollte keinen Teil daran haben; sie hatte etwas getan, was sie davon ausschloß.


I
mmer kam etwas besonders Kränkendes. Jetzt, auf einem Spaziergang, wendete er sich im Gespräch immer nur an ihre Mutter, als hätte er ihr von je alles Persönlichste anvertraut, und das war doch durchaus nicht der Fall gewesen. Anna konnte ihr Gesicht nicht mehr beherrschen; sie blieb zurück; und ihr lag doch wenig daran, diese ersten kleinen Blättchen am Wegrain zu pflücken! Jetzt sah sie, daß Erich seinen Arm in den ihrer Mutter legte. Das sollte sie sehen; nicht wahr?
Sie hatte ein ganz verweintes Gesicht, als sie zusammen wieder das Haus betraten. Frau Sophie aber merkte nichts von Annas Kummer, dazu war sie selbst zu befriedigt über des Neffen Artigkeit. Er hatte ihr von seiner Schlosserlehre erzählt; und sobald man den Menschen Vertrauen entgegenbringt, haben sie ja für das Unglaublichste Verständnis. Frau Sophie erschien alles in einem andern Licht; und sie nahm sich vor, ihrem Gatten eine günstigere Meinung über Erich beizubringen. Der aber nannte die Summe des vergeudeten Vermögens und schlug damit ihre gütige Aufwallung nieder.


E
rich hatte seinen Hut an den Haken gehängt und sah im Vorübergehen Annas Gesicht. Es schien ihm so ganz recht zu sein. Alles muß erst den Höhepunkt erreichen.
»Könnten wir uns einen Augenblick sprechen?« fragte er und ging mit in Annas Stube.
»Sag mal, Anna, was hast du eigentlich?« fragte er.
»Du hast doch was gegen mich«, antwortete sie; und das Hin und Her dauerte lange, als wäre das Wichtigste, die Schuld dem andern aufzuladen. Und gerade, weil keiner dem andern etwas zugefügt hatte, war es so aussichtslos, daß der Ton der Stimmen den chromatischen Übergang fand zu Reue und aufgelöster Versöhnung.
»Ja, da ist nichts zu machen«, sagte Erich und beharrte auf der Dissonanz.
Nun fing Anna an zu weinen, und sie stieß verzweifelt hervor: »Du hast mich überhaupt nicht mehr lieb!«


E
rich antwortete nichts darauf, sagte nur wie vor sich hin - und seine Adern am Hals traten stark hervor: »Was hat mich denn immer oben gehalten, daß ich ein anständiger Kerl blieb - als der Gedanke an dich!«
Anna hatte aufgehorcht. Das klang beglückend. Aber es war ja nicht für sie gesagt; und Erich stand ihr noch ebenso ablehnend gegenüber.
Plötzlich sagte sie - auch nur wie zu sich und ihren Tränen: »An alldem ist nur das abscheuliche Gartenfest schuld.«
Dagegen konnte Erich nichts einwenden.
»Ja, allerdings. Warum hast du dich auch mit dem abgegeben!«
»Warum hast du immer mit der Russin getanzt!« »Ach, Quatsch!« sagte Erich, »das war ganz was andres.«


N
atürlich war es ganz was andres, dachte sie - das hatte nichts mit der großen Liebe zu tun, so wie sie sie damals gefühlt hatte - einen kurzen Augenblick lang; das war nur so eine kleine Liebe, von der er mit diesem gewissen Blick sprach und etwas zwiespältigen Mundwinkeln - der eine schob sich entzückt in die Höhe und der andere meinte etwas Geringschätziges.
Anna schaute auf. Das waren ja der Blick und die Mundwinkel vor ihr; warum sah er denn sie so an?


E
s durchzuckte sie wie eine Erleuchtung: das konnte gar nicht nur ihr Benehmen vom Gartenfest sein, und sie war es auch gar nicht allein, über die er hier Gericht hielt, sondern sie stand ihm gegenüber, als die Vertreterin einer Gesamtheit - die Frau, die er so betrachtete, wie er sie jetzt betrachtete, die keinen Einlaß haben sollte in seine neue heilige Welt. Sie fühlte Luft und Kraft zum Kampfe. Hatte er nicht eben gesagt, daß der Gedanke an sie ihn oben hielt? Sie nahm diese Gewißheit wie ein Schwert in die Hand und stand ihm nun plötzlich ganz anders gegenüber.
»Erli, du hast irgendein Mißtrauen, eine schlechte Meinung uns Frauen gegenüber!«
Er sah sie erstaunt an. »Wieso?« Das war nur Aufschub. Nun sah die Sache erst recht hoffnungslos aus; und Erich schien es gar nicht recht zu sein, daß Anna die Angelegenheit auf ein so riesenhaftes Gebiet hinübergespielt hatte.


A
nna fühlte, daß der Augenblick wichtig war, daß sie eine große Verantwortung in ihren Händen hielt. Sie blickte vor sich nieder und sann nach, angestrengt und erregt; wie könnte sie nur diesen Blick ändern und die Mundwinkel!
Erich sah, daß es in ihren Schläfen arbeitete und daß ihre Lippen sich ganz leise bewegten.
»Anna!« Er sagte es wie aus Versehen und kam einen Schritt näher. Sie schaute auf. Das störte ihn. Er wollte doch etwas sagen. »Anna - denkst du noch immer an den?«
Er war wieder einen Schritt nähergekommen, und doch lag noch eine große breite Verwirrung zwischen ihnen. Sie versuchte zu antworten, aber vergebens; ihr Sehen und Sprechen war weit fort, als gehörte es ihr nicht mehr. Sie konnte nicht einmal den Kopf schütteln. Aber ihre Augen sagten mehr, als sie selbst wußte; viel mehr; denn die hielten nun den Blicken stand, gegen die sie eben noch kämpfen wollte. Es war gut, daß er sie in seinen Armen festhielt; sie hätte nicht länger aufrecht stehen können.


Als sie ein wenig zur Besinnung kam, fragte Anna: »Sag, hast du das eigentlich schon früher gewußt?«
»Ich weiß nicht. Es gibt Dinge, die einem so sicher sind, daß man sie gar nicht zu wissen braucht.«
Sie lehnte wieder den Kopf an ihn und dachte, daß es ihr wohl auch hätte sicher sein können; warum tat es denn sonst so weh, wenn er eine andre gern hatte. Und es kamen ihr wunderliche Gedanken in diesem ersten Überschäumen, wie kleine unruhige Blasen, die vom tiefsten Grund aufsteigen, immer wieder die gleichen und doch immer andre. Alles fiel ihr ein, was Erli an ihr auszusetzen hatte - sogar die großen Schuhe aus der Pensionszeit; die Frauen, von denen er begeistert erzählte, waren doch immer so elegant É Er küßte sie wieder; dann zerstieben all solche Gedanken in der Luft.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.02.2006