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Seit Erli damals in der Rosenlaube sie mit einem so unzufriedenen Blick angeschaut hatte, war ihr etwas bange vor dem Wiedersehen; denn seither waren seine Briefe auch nicht mehr so nah und geschwisterlich wie früher; und das tat ihr weh. Jetzt war jene Verstimmung durch diese neue zugedeckt.
Am nächsten Tage kam er. Als er in ihre Stube trat, sah sie sofort, daß es nur ein Gerücht war. Seelenvergnügt trat er auf sie zu.
»Nicht Erli, das ist gar nicht wahr«, es kam ihr ordentlich taktlos vor, auszusprechen: »daß du dein Vermögen verloren hast!«
»Doch, das ist schon so.«
»Aber Erli!« Ihre Augen fragten weiter: »Bist du denn nicht recht bei Trost?«
»Doch, warum?« Und er wurde plötzlich ganz ernst, mit vielen Falten zwischen den Brauen, so wie sie ihn am liebsten hatte.

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as viele Geld hat mich nur gehindert. Sieh mal, Anna, das paßt nicht für mich. WennÕs nicht nötig ist, mag ich nicht arbeiten, denn irgendein Talent hab ich leider nicht. Nun ist das natürlich ganz was andres, nun macht es Spaß. Du sollst mal sehen, jetzt wird noch was aus mir. Können tat ichÕs immer, das Arbeiten, das hab ich schon früher als kleiner Junge bei Frittken Knollmann im Schweinestall gezeigt; es fehlte mir später nur die rechte Gelegenheit.
Wer heutzutage was Tüchtiges werden will, der muß von der Pike auf anfangen. Zum Beispiel so: ich habe mir nun vorgenommen, meinen alten Lieblingsplan zu verwirklichen und später mal eine Fliegerwerkstatt zu gründen. In meinen früheren Verhältnissen hätte ich zu so einem Unternehmen einfach Geld gegeben und mich ab und zu auf dem Flugplatz sehen lassen. Jetzt dagegen habe ich mich in der Schlosserei als Lehrling angemeldet und werde dort nächste Woche meine Stelle am Schraubstock antreten. Du sollst mal sehen, was ich später für Apparate baue!
Soviel habe ich nämlich gesehen während meiner Studentenzeit: die reichen Leute taugen deshalb meistens nichts, weil ihnen das viele Geld den Spaß an der richtigen, notwendigen Arbeit verdirbt. Oder sie fangen hoch oben irgendwo mit der Arbeit an und werden schwindlig, weil sie versäumt haben, allmählich hinaufzusteigen. Es sind verflucht arme Kerls, diese reichen Leute!«
Er hatte sich inzwischen eine Zigarette angezündet und sprach lange und eingehend über diese Dinge, wie damals in Italien über das Eheproblem.
Und Anna behielt doch recht.
Sie fühlte auch, daß er zufrieden mit ihr war, weil er ihr, als der einzigen, diese Lebensanschauungen entwickeln konnte, ohne unterbrochen zu werden, und sie war froh, daß er die Rosenlaube vom Gartenfest über all dem vergessen hatte.

Seit der Brief aus Berlin gekommen war, äußerte Anna den Wunsch, ihre Freundin Brigitte zu besuchen, obgleich sie schon länger nicht mehr in regem Verkehr standen.
Man vergißt abseits im Ravensberger Land, daß Berlin so groß ist und nicht allzuviel Aussicht bietet, dort seinen Bekannten zu begegnen. Aber darüber machte sie sich keine Gedanken. Sondern sie reiste im Herbst nach Berlin.
Brigitte brachte fast die ganzen Tage auf der Universität zu. Sie nannte Anna nicht mehr »Pferdchen« und war überhaupt ein wenig kühler als sonst, denn sie fand es enttäuschend, daß sie immer noch nicht ihren Vorsatz verwirklicht hatte, etwas Richtiges zu tun, und wenn es auch nur Krankenpflege war.

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as trug dazu bei, Annas Heimweh nach Walström zu verstärken, das aufs neue über sie gekommen war, seit sich das erste Entzücken über seinen Brief gelegt hatte.
Und eines Morgens, als sie noch trauriger aufwachte, als sie eingeschlafen war, ging sie an den Schreibtisch, ehe der helle Morgen ihr recht bewußt wurde, und schrieb auf den nächsten Bogen: sie sei bei ihrer Freundin in Berlin, wenn er in der Nähe vorbeikäme, möchte er doch vorsprechen, sie wollte ihn nur gerne einmal wiedersehen. Er würde das ja schon richtig verstehen É Und sie zog sich schnell an und steckte den Brief selbst in den Kasten. Sie konnte es doch ruhig tun - sie wollte ihn ja nicht heiraten.

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ie Antwort blieb ebensolange aus wie das erstemal, obgleich sie nun seine Adresse wußte und der Brief nicht über Hannover und Schweden gegangen war.
Sie lautete aber: »Ich werde kommen.«
Bevor Anna ins Wohnzimmer trat, zögerte sie; denn sie merkte plötzlich, daß die Angst wieder bei ihr war, wie am Schluß des italienischen Abends. Aber sie hatte doch all die Zeit nur diesen einen Wunsch gehabt, der sich jetzt erfüllte: er war da, dort in der Wohnstube, sie brauchte nur hineinzugehen.
Sie stellte sich ihn schnell noch mal genau vor Augen, um nicht ein erstauntes Gesicht zu machen.
Aber das tat sie doch. Er hatte wohl beim ersten Blick die Angst wieder erkannt, die ihnen beim Fest den Schluß des Abends verdorben hatte. Und sie wußte gleich: das konnte kein richtiger Abschied werden, denn weder Glyzinen- noch Rosenduft lag in der Luft, noch fühlte sie sich imstande, edle, verbessernde Worte zu sagen.
Sie gab ihm flüchtig die Hand, guckte an ihm vorbei und steuerte auf das braune Sofa zu, als würde das schon das übrige tun.
Aber das Sofa bot weder Hilfe noch irgendwelchen Schutz. Im Gegenteil, man saß darauf sehr exponiert, was nicht vorteilhaft ist, wenn man so verwirrt und betroffen aussieht.
Und weil keiner was sagte, etwas aber geschehen mußte, fing Anna plötzlich an zu lachen, wie es ihr schon zu Hause passiert war, wenn eine Gesellschaft über schmerzlicher Begebenheit versammelt war und einer der ergriffensten Würdenträger den Schlickupp bekam.
Sie griff nach der nächst erreichbaren Unterhaltung, denn er machte einen liebenswürdig überlegenen Mund, und seine halbgeöffneten Augen sahen ihr abwartend zu.
Bei allem, was sie sagte, konnte sie ausführlich bei sich überdenken, daß dies also der Augenblick war, den sie so lange vorausgeträumt hatte, auf das verschiedenartigste ausgemalt.
Vielleicht, daß sie ihm um den Hals fallen würde und ihm zuflüstern: »Ich danke dir, daß du mir einmal die Herrlichkeit der Welt gezeigt hast, ich danke dir!« É Weiter wußte sie nicht.

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der wenn sie traurig war und schwer von Heimweh, da würde sie ihn gebeten haben: »Laß mich nur noch ein einziges Mal an dir ausruhen von allem Friedlosen und Ungewissen! Laß mich nur noch einmal den Kopf an dich lehnen, daß ich still werde und alles begreife, was mich ängstet und verwirrt, nur noch dies eine Mal!«
Vielleicht hätte sie ihn auch ganz leise gefragt, was sie selbst nicht wußte: »Bist du es, den ich lieben kann? Mit allen meinen Sinnen, die ich nicht kenne, aber die wild sind und heiß - Bist du es?« Aber da wußte sie auch wieder nicht weiter.
Wenn es auch etwas ganz anderes war, das sie ihm sagen würde: so ähnlich mußte es klingen.
Nun aber - nun saß sie ihm schräg gegenüber, redete ihn »Sie« an und - sie sah noch einmal mit einem schnellen Blick zu ihm hin, ja, er war ihr fremd.
Wenn er nur gehen möchte, dachte sie.

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r schien sich das Wiedersehen auch ganz anders vorgestellt zu haben. Wie, konnte man freilich nicht wissen. Er machte, trotz seines merklichen Unbehagens, bis zum Schluß den liebenswürdig überlegenen Mund und sah ihr mit halbgeöffneten Augen abwartend zu. Dann verabschiedete er sich, mit einem Lächeln, das nicht fröhlich war.
Als Anna nun allein in Brigittens Wohnzimmer zurückblieb, war es viel schlimmer als vorher. Denn nun konnte sie nicht einmal mehr von diesem Abschied träumen, so, wie er sein sollte; alles war ihr genommen, auch das Heimweh. Wie aber sollte sie leben ohne den Glauben an eine ferne Heimat!
É Und nun mußte sie wieder mit der Arbeit anfangen, die im Sommer schon mal beinahe beendet war: nämlich alles Heimweh, das sie aus der roten Rosenlaube damals verschleppt hatte in ihr tägliches Leben, wieder zurückzubringen und auf immer dort zu lassen.

Am letzten Tage vor ihrer Abreise - es war ein Sonntag - sollte sich Anna zur verabredeten Stunde mit Brigitte in einem Museum zusammenfinden. Sie sah unruhig auf die Uhr und schob ihr Fortgehen immer wieder um fünf Minuten hinaus. Denn sie hatte den stillen Vormittag allein zu Hause noch einmal ihrem Kummer gewidmet; und die Tränen wollten nicht enden. Als sie schließlich ihren Mantel anzog - obgleich der Spiegel noch nicht zum Ausgehen raten konnte - klopfte es an ihre Tür und Erich kam herein.
Die plötzliche Erscheinung - wie ein Ertapptwerden - ließ die Tränen wieder aus ihrem mühsam errungenen Hinterhalt hervorbrechen. Erich sah sie erschrokken, fragend an und legte seine gute, arbeitskräftige Hand halb väterlich und halb knabenhaft auf ihre Schulter. Das tat unsäglich wohl und bestärkte die Tränen in ihrem Daseinsrecht.

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ie setzten sich nebeneinander aufs Sofa. »Was ist dir, Anna?« fragte Erichs besorgte Stimme, und seine Hand auf ihrem Rücken sagte es auch.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.02.2006