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Und die Herrlichkeit des Lebens würde ihnen gehören - wenn auch nur diesen einen Abschied lang É
Mehr wollte sie nicht.
Eigentlich war es aber doch merkwürdig, daß sie nicht mehr wollte. Sie dachte manchmal darüber nach, warum sie nur von diesem Abschied träumte und nicht davon, immer bei ihm zu sein. Da blieb ein Zwiespalt.
Die einzige Hoffnung, die ihr den Abschied mit Glyzinen und Bambus und roten Rosen etwas näher rückte, war die moderne Kunstausstellung, deren Plakat beim Portier von Kastens Hotel in Hannover hing, in die man jedoch fast nie kam, weil man soviel Besorgungen hat, wenn man nach Hannover fährt, und alles doch nicht auf der Georgstraße zu haben ist.
Diesmal aber mußte die Mutter es sich gefallen lassen, daß die Wahl des Regenmantels bei Karl Rocholl nicht so genau verübt wurde.
Anna ging in die Ausstellung.
Das erste, was sie von ihm sah, war eine Landschaft am nordischen Meer.

S
ie mußte die Hände in die Taschen ihres dunkelblauen Schneiderkostüms stecken, damit sie nichts verrieten durch eine entzückte Bewegung. Auf diesem Bild stand der ganze Frühling, den er ihr gezeigt hatte. Den kannte sie doch! Jeden Tag, immerwährend, dachte sie an diesen Frühling. Aber auf diesem Bilde stand noch etwas andres von Walström - eine Dunkelheit seines Wesens, die sie nur scheu und ehrfürchtig geahnt hatte. Dies Unbegriffene beschwerte ihr nun die Seele mit einem jähen Heimweh. Sie ging weiter.
Die Frauen waren auch von ihm, und die tanzenden Jünglinge.
Anna wollte nach der Landschaft umkehren; aber sie mußte alles sehen.

S
ie schaute noch einmal auf den Namen, als hätte sie sich geirrt. Die beiden Bilder machten ihr ein Unbehagen, das sie schmerzhaft im Halse fühlte. Hinter ihr gingen zwei Sachverständige vorüber: »Ganz gut gemalt, aber doch stark dekadent«, sagte der eine und lüftete impulsiv seinen Paletot.
Länger konnte Anna nicht bleiben. Ganz verwirrt von Unbehagen und Heimweh ging sie zum Schluß noch einmal zur Landschaft zurück, um gewiß zu sein, daß auch wirklich der Frühling darauf stand. Dann mußte sie sich eilen, denn ihre Mutter erwartete sie im Hotel.
Ein paar Tage trug Anna die zwiespältigen Eindrücke aus dem Kunstsalon mit sich herum, ohne daran zu rühren. Eines Morgens aber, als sie tatkräftig und ausgeschlafen war, verlangte sie nach Klarheit.

D
ie Bilder, die der Herr dekadent fand, erinnerten sie an das Unbehagen, was man fühlt, wenn man solche Leute sieht, wie auf Gesellschaften und dem Karnevalsfest. Solche Leute, die sich ansehen und nicht dabei lächeln, sondern alles mögliche Wissen dabei austauschen; die man nicht leiden kann, weil ihre Nähe weh tut, daß man weinen möchte.
Ja, es half nichts, diesen Eindruck durch den der Landschaft zu entschuldigen. Was nützte es, wenn Walström noch soviel Schönes wußte vom Frühling, wenn er zu den Menschen gehörte, die keine fromme, ehrfürchtige Seele haben?
Sie erinnerte sich eines Blickes von ihm, vor dem sie damals schnell die Augen geschlossen hatte, um sich nicht stören zu lassen im Ausruhen am Herzen der Erde.

J
etzt mußte sie alles klar und unbeschönigt ausbreiten. Und weil sie sich vor ihrem Heimweh nicht anders zu retten wußte, flüchtete sie wieder zu dem kindlichen Eifer, der früher vor jedem Abendmahl so erbarmungslos in ihrer Seele gearbeitet hatte. So nahm sie denn in einem Aufschwung von Kraft all ihr Heimweh und räumte es aus ihrer Seele. Und auch der Abschied mit den erforderlichen Zutaten wurde in diesem kurzen strengen Entschluß aus der Zukunft gestrichen.
Tagelang ging sie hoch und aufrecht im sieghaften Gefühl der Überwindung.
Sie begriff gar nicht mehr, wie sie neulich der Eltern Erlaubnis zur ersehnten Arbeit großmütig auf das nächste Frühjahr verschoben hatte.

Frau Sophie war sehr enttäuscht, daß sie nun doch wieder von der Krankenpflege anfing.

D
er Beschluß, auf früheren Eintritt zu dringen, hob Anna so hoch in unerschütterbare Sicherheit über Liebe und Leidenschaft, daß sie einen neuen, edleren Abschied plante als mit Glyzinen und Rosen.
Und sie schrieb - was sie sich längst abgewöhnt hatte - einen viel zu schnellen Brief, wie früher manchmal an Erli, als seine Grundsätze noch zu wünschen übrigließen.
Sie schrieb an Walström von Schuld und Verantwortung, die jener Abend in ihr zurückgelassen. O, wenn sie ihm damals gesagt hätte, was sie jetzt wußte, dann wäre die Atmosphäre des Gartenfestes machtlos an ihnen vorübergestrichen; denn sie glaubte ja nicht mehr, daß Glück solch ein betäubender Rausch sein konnte; es mußte etwas andres geben, etwas Heiliges, wie Wachstum und Förderung. Daß er daran nicht glauben konnte, war ihr Versäumen und daß er eine schlechte Meinung von den Frauen haben würde; denn er mußte nun denken, sie, und mit ihr alle Frauen, wollten dieses ernstlose Glück. Was für sie selbst damals neu und sehr hochschwingend gewesen, das vergaß sie über der Sorge um seine Seele.
Sie adressierte den Brief an die Hannoversche Kunstausstellung und hatte ein freies, selbstsicheres Gefühl von Abschluß, als sie ihn dem Postboten mitgab.
Nach einigen Tagen fing sie an zu überlegen, ob er ihn wohl haben könnte. Und dann, nach einer Woche etwa, fand sie sich immer zufällig im Flur ein, wenn der Postbote die Tageszeitung und manchmal die landwirtschaftliche Presse aus der morschen Tasche zog und den Finger leckte, um die Briefe herauszusuchen. Erst wenn die Glocke an der Haustür bei seinem Fortgehen wieder schellte, sah man, daß es nur Rechnungen waren.
Sie ging wieder hinauf zum Üben. Sie erwartete ja gar keine Antwort. Was sollte er auch schreiben auf den Brief hin? Es war ja der Abschluß.
Eines Morgens, als sie das Überwachen des Postempfangs längst aufgegeben hatte, weil es doch nichts nützte, lag ein Brief für sie da, mit einer feinen geschmackvollen Schrift.

E
r schrieb aus Berlin, daß ihr Brief ihn über seine schwedische Heimat erreicht habe. Er dankte ihr mit schlichten herzlichen Worten für ihren ernsten Brief und versicherte, daß er den Abend losgelöst von der Atmosphäre als einen Traum in seiner Erinnerung behalten habe, daß für sie, sich Vorwürfe zu machen, kein Grund vorläge.
Und sie las weiter, wie er von sich erzählte, als spräche er zu einem Freunde, von seinem Tun und Arbeiten; wie er ihr nochmal dankte - geschwisterlich - denn so etwa klang es, wenn Erli am nettesten war.
Dieser Brief hatte Anna so beglückt, daß sie weit laufen mußte. Obgleich es noch infolge eines Gewitters heftig regnete, lief sie doch durch die Allee in den Wald und teilte den Bäumen ihre Seligkeit mit, die verständnislos ihre blanken Blätter hängen ließen, weil sie sich jetzt mit der ernsten, feuchten Kühle beschäftigen mußten.

N
achts konnte sie kaum schlafen. Denn nun durfte sie ja wieder an ihn denken, soviel sie wollte. Und es waren gerade die späten Juninächte, die hell und unbeweglich draußen im Hof stehen. Erst nach Mitternacht kommt ein langsamer Windhauch über den Teich, als käme er weither von Süden, und bringt so viel Lindenduft aus dem Park mit, daß man erst recht nicht schlafen kann.
So war denn Anna müde und empfindlich, als ihre Mutter wieder vom Roten Kreuz anfing. Sie konnte ja nicht wissen, daß ihr nun nichts mehr an der Beschleunigung lag.
Frau Sophie meinte es so gut. Sie sprach von Vater, daß sie wohl die Einsamkeit mit ihm auf sich nehmen wolle und seinen Ärger, denn eigentlich fand er es eine verrückte Idee.
Anna hatte zwar nicht recht zugehört, aber sie fing doch an zu weinen.
Da erschrak die Mutter und sagte betrübt: »Ach, liebes Kind, ich hätte nicht daran rühren sollen, nun hab ich dir weh getan.«

A
nna fühlte so viel Güte, daß sie diese Unwahrheit nicht stehenlassen konnte. Sie sagte: »Nein, Mutter, darüber weine ich gar nicht, nur« - sie stockte, denn sie hätte lieber doch nichts gesagt, aber die Mutter sah sie schon an, als wüßte sie - und so sagte sie es schnell ganz leise: »Nur weil ich nun weiß, wie es ist, wenn man jemand liebhat.« Und sie sagte noch etwas Undeutliches - daß es nur was ganz Fernes, Unwirkliches sei - damit Mutter nicht dächte, sie wollte ihn heiraten. Denn das wollte sie ja nicht.
Frau Sophie nahm ihre Tochter ganz still und fest in den Arm, wie sie es noch nie getan hatte, so, als wäre sie eine ganz junge Frau.

U
nd mit keinem Wort oder Blick kam die Mutter je auf dieses scheue Verstehen zurück. Aber Anna kam darauf zurück mit ihren Gedanken; immer wieder; und wenn sie ihr mal still die Hände küßte, dann war es ein dankbares Erinnern an den Augenblick, da auch ihre Mutter von der Liebe wußte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.02.2006