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So blieben sie zwischen den andern stehen, als suchten sie Gefallen am lauten Wirbel.
In die Laube mit den roten Rosen und an die fein klirrende Bambuswand fanden sie nicht mehr zurück.
Endlich, als Annas Eltern aufbrachen, ging sie auch, ohne sich besonders von ihm zu verabschieden; sie gab ihm in aller Beisein die Hand, fremd - wie jedem Tischherrn auf jeder Gesellschaft.

Der nächste Tag verging in zerstreutem Taumel. Es gab viel zu tun, denn die Koffer mußten gepackt werden.
Anna hatte ihre Sachen im Zimmer ausgebreitet und blieb dazwischen lange stehn, mit zurückgebogenem Kopf und geschlossenen Augen, als stünde sie mitten in der Unendlichkeit und wüßte nicht weiter. Sie setzte sich auf ihren Bettrand und ließ die kleine braune Bernsteinkette durch die Finger gleiten, die sie gestern abend um den Hals getragen hatte, und hob sie auf gegen das Licht, damit Klarheit und Wärme in den Steinen lebendig würde É Da fühlte sie plötzlich nichts mehr von Angst und Schwere; sie fühlte nur noch, daß sie die Herrlichkeit des Lebens geschaut hatte; und eine fromme Glückseligkeit betäubte sie, als gehöre sie zu den Auserwählten É
Um neun Uhr abends kam die Gepäckbeförderung und holte alles auf den Dampfer, der früh am nächsten Morgen fuhr.
Schon des Nachmittags war Erichs Mutter in schmerzhafter Aufregung: ihr Sohn kam nicht. Es war ja immer so, daß er einen warten ließ, unvergleichlich rücksichtslos. Und deshalb wirkten solche Zwischenfälle so anstrengend, weil man sich über all die vielen Male, wo es geradeso war, noch einmal miterzürnen mußte, bis man selbst vor gekränkter Spannung die Zeit verloren hatte.
Anna war sonst immer sehr betroffen von solchen Unarten ihres Vetters. Sie schwebte in Angst wie früher als kleines Mädchen, ob er noch vor dem empfindlichsten Augenblick zurückkehrte, weil es ihr körperlich und seelisch peinlich war, wenn er eine Ohrfeige bekam.
Heute konnte sie sich an dieser Aufregung nicht beteiligen. Es war ihr lieb, daß sie Erich solange nicht sah.
Als ihre Sachen um sieben Uhr bereitstanden, machte sie sich fertig, auszugehen. Sie mußte noch einmal am Hafen sein, wenn die Sonne unterging, - wenn all die vielen Schiffer am Strande stillstehen und, sobald die Sonne fort ist, die Fahne vom Mast einholen - weil es ein heiliger Augenblick ist, wenn die Sonne hinabsinkt, die noch eben, liebend und wohltätig, der Welt zu gehören schien.
Als sie um den Hotelgarten bog, kam Erich. Er tat sehr erstaunt, daß man sich so um ihn bemüht hatte. Es war doch nur das letzte Tennisspiel beim Gouverneur.
Er sah sie an mit einem verschlossenen, unfreundlichen Blick.
»Wer war das eigentlich, mit dem du gestern abend zusammen warst?« fragte er nach einer Pause und bemühte sich, eine gleichgültige Stimme zu machen.
»Ach, ein Maler; Walström heißt er.«
»So.«
»Fandst du ihn nicht nett?« fragte sie.
Er zuckte die Achseln: »Es gibt zehnmal Nettere.«
Da meinte Anna, daß er nun schnell zu seiner Mutter gehen müßte. »Aber ich bitte euch«, wehrte er die Vorwürfe ab, »meinen Koffer? Das mach ich allein!«
Er tat es dann auch - nachdem seine Mutter alles mühsam Erreichbare unter bekümmertem Seufzen hatte einpacken lassen.

Anna stand bei Luigi, dem alten Leuchtturmwärter, wo die Wellen hoch an den Felsen aufspritzten.
Sie schaute darüber hinweg, in die Ferne. Da wurde das Meer weit und unbeirrbar.
Auf hellgoldenen Sänften stieg die Sonne herab.
»Troppo bello« murmelte Luigi neben ihr an der Mauer mit seinem kundigen, zahnlosen Kiefer; »troppo bello«, - »domani? äh!« Er schüttelte Kopf und Hand: »tempo cattivo.«
Seine Worte durchzuckten Anna, als hätte er mehr gesagt als eine Wetterprophezeiung.
Sie ging flüchtend zur Seite.
Jetzt berührte die Sonne den Meeresstrand. Die Schiffer standen schon am Ufer still. Jetzt gleich - jetzt war sie fort. Die Fahnen an den Masten wurden eingeholt. »Adesso, Finito«, bestätigte Luigi.
Und es kam der schauernde fahle Augenblick des Begreifens, daß die Sonne nun fort ist und den Tag mit sich hinabgenommen hat É


Siebzehntes Kapitel
Das alte Gutshaus von Brakenhorst lag noch immer wie im Traum und blickte vor sich nieder ins dumpfe, undurchdringliche Wasser. Die Tannen wehrten sich gegen den Sturm, und auf dem Hofe flogen die Tauben noch immer alle zusammen auf der einen kleinen Stelle nieder und pickten, als wäre dort früher zu Mose Lebzeiten das unverwüstliche Manna vom Himmel gefallen.
Das Pflaster unter dem Tor dröhnte erfreut, als die Herrschaften wieder einfuhren.
Nun standen sie im Flur und blinzelten ein wenig, als könnten sie in dieser dämmrigen Kühle nichts erkennen, weil sie aus dem hellen, buntflimmrigen Süden kamen.
Die Fenster waren noch verhängt von grauen Nebeln. Der Atem ging mühsam. Trotzdem sagte Frau Sophie: »Es ist doch schön, wieder nach Hause zu kommen.«

Anna ging hinaus in den Park und durch das weiße Mauertor weiter ins Feld. Die Chausseebäume und kleinen Gehölze standen undeutlich in der dichten Luft. Der Dunst des Bodens war scharf und wehtuend für die empfindliche Brust.

A
nnas Blicke gingen ungeduldig über das braune Land hin, streiften die knospenden Baumgezweige und die überwinterten mattgrünen Saatstückchen auf den Feldern, als suchten sie den Frühling. Sie hörte nicht sein heimliches Tuscheln unter ihrem Schritt, wenn das Wiesenmoor weich und feucht wurde. Ihre Gedanken zogen weit fort, als gäbe es hier keinen Frühling. Von der Schlüsselblumenwiese, wo er einst zu ihrer Kinderzeit gewohnt hatte, wußte sie nicht mehr. Sie wußte nur noch, daß der Frühling weit, weit in der Ferne blieb, hinter Glyzinen und Rosenhecken und sich wiegte nach dem auf und nieder schwebenden Tazettenduft. O, hätte sie jetzt nur einen solchen Strauß und könnte das Gesicht in ihm vergraben, das müßte Kühlung sein für die heiße Traurigkeit!
Aber es war nicht nur der Frühling, den Anna vergebens suchte; es schien auch, als könnte sie ihre Heimat nicht wiederfinden.

E
nttäuscht kam sie von ihren Lieblingswegen nach Haus; vom Walde, von der Heide, wo sie früher immer Trost fand. Und in ihrer Stube griff sie nach einem der Bücher, die sie bestärkt hatten in ihrem ernsten Streben nach irgendeiner vollkommenen Tätigkeit. Aber das Buch lag bald da und wartete vergebens auf Umblättern; weil Anna aus dem Fenster sah gegen die dunkle Tannenwand, die sich immer gleichblieb. Oder sie ging ins Musikzimmer an den Flügel und sang ganz leise ihr Lieblingslied:
Daß ich so krank geworden,
Wer hat es denn gemacht,
Kein kühler Hauch von Norden
Und keine Sternennacht É

E
inmal hatte sie vergessen, die Türen hinter sich zu schließen. Hektor, der junge Jagdhund, zwängte sich durch den Spalt und kam erregt angelaufen. Dies leise traurige Lied erschütterte ihn so sehr, daß er zitternd im Zimmer hin- und herlief und, sobald sie aufhörte, sich flehend an die Knie seiner Freundin schmiegte. Und doch wollte und wollte er sich nicht hinausbringen lassen, sondern ließ Anna ruhig am Halsband ziehen, daß sein scheckiges Fell sich in dicke Falten legte, und klammerte sich mit steifen Füßen an das glatte Parkett.

A
nna hatte ihre Mutter nicht mehr an ihren Wunsch erinnert, den Kursus in der Krankenpflege zu beginnen. Wie konnte sie etwas Tüchtiges leisten, wenn sie es nicht aus Freude tat, wenn immer die Sehnsucht sie festhielt und das Heimweh nach dem fernen Frühling!
Anfangs, da sie suchend über das braune Land ging, hatte sie geglaubt, daß schon ein Blütenstrauß, ein Duftstrom des fernen Frühlings, sie zu trösten vermöchte. Aber je länger, je quälender wurde die Aussicht, in einem kommenden Jahr all die bunte, unbegreifliche Herrlichkeit wiederzusehen und nicht ihn, der sie ihr offenbart hatte.
Das einzige, was Anna von ihm wußte, war, daß er Walström hieß und Bilder malte; und daß man in der weiten Welt, die hinter den heidigen Hügeln liegt, seinen Namen kannte. Welcher der verschiedenen Nationen er angehörte, die beim Karnevalsfest vertreten waren, konnte sie nicht erraten, denn er sprach sehr gut deutsch; nur in der Betonung lag manchmal ein fremder Reiz: die Worte fingen hochstimmig an und sanken mit der letzten Silbe ein wenig hinunter. Sie hatte es noch deutlich im Ohr, wie er immer wieder vor sich hin sagte: »Es ist ja so unglaublich schön!« und wie er ihr weißes, etwas unmodernes Batistkleid bewunderte.
Anna hatte nur noch einen Gedanken: wie sie ihn wohl noch einmal wiedersehen könnte.
Nur einmal noch! Zu einem langen, schönsten Abschied!

W
enn sie an diesen Abschied dachte, mußten Glyzinen dabei sein und Bambus und viele dunkelrote Rosen. Und wie er ihr den Frühling gezeigt hatte, so würde er sie auch den Sommer begreifen lehren. Sie müßten sich ansehen und einander zulächeln. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.02.2006