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Patienten vor
verschlossenen
Praxistüren

Ärzte-Protest - Notfälle versorgt


Von Sabine Schulze (Text) und Hans-Werner Büscher (Fotos)
Bielefeld (WB). Eigentlich wäre Lotte K. zum Verbandswechsel gestern zu ihrem Arzt gegangen. Dessen Praxis aber war geschlossen. So hat die 68-Jährige kurzerhand das Franziskus Hospital aufgesucht: In der Ambulanz des »Klösterchen« wurde ihr Bein neu verbunden.
80 Prozent der 300 Arztpraxen in Bielefeld blieben gestern geschlossen. Gynäkologen ebenso wie Radiologen, Dermatologen oder Allgemeinmediziner drückten damit ihren Protest gegen die Gesundheitspolitik aus. Gut 40 Ärzteorganisationen und -verbände hatten dazu aufgerufen. Und mehr als 100 der 450 in Bielefeld niedergelassenen Mediziner reisten nach Berlin, um dort an einer Kundgebung teilzunehmen.
Die Versorgung akut erkrankter Patienten war gleichwohl gesichert: Die Notfallpraxis an der Oelmühlenstraße war ausnahmsweise bereits am Vormittag geöffnet, und die beiden diensthabenden Ärzte waren mit mehr als 50 Patienten gut beschäftigt . Auch am Nachmittag war reichlich und mehr als mittwochs üblich zu tun: »Wer am Vormittag wohl erst noch abgewartet hat, ist dann am Nachmittag doch gekommen«, vermutet Arzthelferin Lilli Schmidt.
Außerdem hatte jede Facharztgruppe vormittags einen Kollegen in Bereitschaft, zwei Ärzte (und zwei weitere im Hintergrund) leisteten den Fahrdienst. Zwar riefen die ersten Patienten bereits morgens um 7.30 Uhr den Ärztlichen Notdienst an, insgesamt aber war die Nachfrage wesentlich geringer als erwartet: Die Bürger seien wohl sehr gut informiert, hieß es. Langfristig vereinbarte Termine waren zudem von vielen Arztpraxen schon vor Wochen umgelegt worden - auch wenn es durchaus Mediziner gab, die dies ihren Patienten nicht zumuten wollten und daher ihren Dienst antraten.
Dass viele niedergelassene Ärzte gestern ihren Protesttag hatten, registrierten auch die Krankenhaus-Ambulanzen: 20 bis 30 Prozent mehr Patienten als mittwochs üblich sind gestern Vormittag in das Klösterchen gekommen. »Auch wenn wir nicht überrannt werden, ist es spürbar«, sagte Geschäftsführer Dr. Georg Rüter. Weggeschickt werde niemand, die Patienten würden versorgt.
Trotz Schnee und Kälte in Berlin: »Die Stimmung war super«, sagte Dr. Michael Müller vom Ärzte- und Psychologenverband medi owl nach der Kundgebung vor dem Gesundheitsministerium. 21 000 Ärzte und Arzthelferinnen hatten dort ihrem Unmut Luft gemacht. Ihre Kritik entzündete sich an der hohen Arbeitsbelastung, der Regelungswut und Bürokratie, die bis zu 20 Prozent der Arbeit ausmache und an einem zunehmend als zynisch empfundenen System, das die Ärzte in Haftung nehme.
»Der Clou ist das geplante Bonus-Malus-System«, kritisiert Müller. Es sieht Prämien vor für Ärzte, die wenig verschreiben, und Strafen, für die, die mehr verschreiben. »Regress haben wir ja schon. Aber das ist pervers: Wenn in Zukunft ein Arzt sagt, dass er etwas nicht mehr verschreiben kann, wird sich der Patient fragen, was er wohl dafür bekommt. Damit wird der Arztberuf zu Grabe getragen.« Zu den Forderungen der Mediziner gehört auch die Anpassung der Gebührenordnung, die seit 1986 einmal um 1,6 Prozent angehoben wurde. »Aber es geht ja allen schlechter. Deswegen wäre wohl kaum einer auf die Straße gegangen«, meint Müller.
Weitere Aktionen sollen folgen, das Frühjahr wird turbulent.

Artikel vom 19.01.2006