28.01.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Eltern auf Zeit für
jungen Afghanen

Löhner nehmen herzkrankes Kind auf

Von Reinhard Kehmeier
Löhne (WB). »Wir haben drei gesunde Enkel und wollen etwas für ein Kind tun, dem es nicht so gut geht«, sagt die 55-jährige Rita Stork aus Gohfeld. Zu der Löhner Familie gehört gegenwärtig der zwölfjährige Noor Agha Mozamel. Er stammt aus Afghanistan.

Der Junge ist mit einem Herzfehler zur Welt gekommen. Zuletzt konnte er kaum noch gehen, ohne blaue Lippen zu bekommen. Nach der Operation im Herzzentrum Bad Oeynhausen eine Woche vor Weihnachten war er schon 14 Tage später putzmunter auf den Beinen. Inzwischen tollt er mit dem Familienhund Benny durchs Haus des Bäckermeisters und heutigen Rentners Harry Stork (60), unternimmt Ausflüge und freut sich über neue Kontakte in der anfangs für ihn völlig fremden Welt.
Pflegemutter Rita Stork hat Kontakt aufgenommen zur nahe gelegenen Grundschule, wo der wissbegierige junge Gast seine neuen Sprachkenntnisse erweitern kann. Sein Landsmann und Altersgenosse Wais hat ihm auf Dari, der heimatlichen persischen Sprache, erzählt, wie es zugeht in deutschen Familien und in deutschen Schulen. Wais, selbst am Herzen operiert, war schon vor einem Jahr für viereinhalb Monate in Löhne bei Gisela und Ralf Bröenhorst aufgenommen worden und vor Weihnachten zur Nachuntersuchung für mehrere Wochen aus Kabul zurückgekehrt.
Ralf Bröenhorst ist Mitglied im Regionalvorstand Minden-Ravensberg der Johanniter-Unfall-Hilfe. »Die Pflege-Elternschaft war für uns eine echte Bereicherung«, erklärt der Senior auch im Namen seiner Frau. Beide finden, dass auch andere rüstige Großeltern Zeit hätten, sich um eine solch wichtige gesellschaftliche Aufgabe zu kümmern und einem Kind vorübergehend eine neue Heimat zu geben. Als bei den Johannitern die Bitte der Hilfsorganisation »Kinder brauchen uns« einging, für zwei junge, schwer erkrankte Afghanen Eltern auf Zeit ausfindig zu machen, startete Bröenhorst einen Zeitungsaufruf.
Die positive Überraschung: Mehr als 20 Familien meldeten sich. Der vierjährige Farjad wurde von Petra und Matthias Thiesmeyer in Bad Oeynhausen aufgenommen. Wegen einer Infektion musste der Junge länger als Mozamel auf die Operation warten.
Mit dem Zwölfjährigen fahren die Storks regelmäßig zur Kontrolle in die Kinderklinik des Herzzentrums. Ein Verwandter der Mutter des Jungen lebt in Medebach im Sauerland und meldet sich wöchentlich bei seinem Neffen. Auch die Eltern haben längst aus Kabul angerufen. »Das war bitter hinterher«, weiß die Pflegemutter vom Heimweh ihres Zöglings. Ein Freitags-Termin - am islamischen Feiertag - stellt weiterhin den Telefonkontakt zur Familie in Afghanistan sicher. Mozamel hat drei kleinere Geschwister.
»Der Große« kann daheim viel berichten, besonders, wenn er in etwa drei Monaten zurück darf in das Land am Hindukusch. Schnell lernt er jetzt die deutsche Sprache. Die Verständigung wird jeden Tag etwas besser. Den »Erste-Hilfe-Wortschatz« auf Dari benötigen die Storks kaum noch. Im Kinderzimmer ihres Hauses stand noch ein Jugend-Brockhaus. Er liegt häufig auf dem Schoß von Mozamel. Das Computer-Zeitalter mag er indes nicht missen: Der Game-Boy ist Favorit im reichhaltigen Spielzeug.
»Beim Ýschwarzen PeterÜ schlägt er uns immer«, erzählt Rita Stork lachend und berichtet, dass auch »Mensch ärgere dich nicht« den Jungen begeistert. Das Spiel hat er schon auf der Kinderstation im Krankenhaus kennengelernt. Momentan sind ihm die Ausflüge mit dem Auto am liebsten. Viel hat er schon von Land und Leuten an Weser und Werre gesehen. Mozamel möchte immer vorn sitzen. Jetzt darf er es, denn 2006 ist er zwölf geworden. Das genaue Datum wird nach der Tradition seiner Heimat nicht festgehalten.

Artikel vom 28.01.2006