08.02.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Diesen Augenblick, da er das weiche krause Haar an seiner Wange fühlte - diesen überwältigendsten Augenblick - konnte Erich in der Erinnerung nie so lange wiedererleben, als er gewesen war; weil er hinübereilte zu dem nächsten, dem Höhepunkt; wie es geschehen, konnte er nicht mehr ausfindig machen, wie er plötzlich seine Lippen auf den ihren fühlte zu einem langen herrlichen Kusse É
Was hätte ihnen, den vor Abschiedskummer Glücklichen, was von der Welt hätte ihnen diesen überirdischen Augenblick stören können, was hätte ihnen die kleine krächzende Abendbrotglocke anhaben können! Aber links die jüngere Inge, die noch sprechen konnte, sagte: »Es hat geschellt, wir müssen ins Haus gehen.«
Erich hätte ihr am liebsten einen Schubs die Bodentreppe hinunter versetzt; denn der Kopf an seiner Schulter hatte sich gehoben; und es half nichts, sie mußten nun zum Abendbrot gehen, die beiden ins Schloß, und er ins Pächterhaus. Doch keine Macht der Welt, und nicht die Abendbrotglocke, konnte dies Wunder ungeschehen machen, daß er Bertel, die drei Jahre ältere Komtesse Bertel geküßt hatte É

E
r öffnete die Augen ein wenig und sah zu Anna hinüber: »Noch ein Jahr älter als du«, dachte er und betrachtete sie wieder mit vergleichenden Blicken, die in jeder Beziehung zugunsten der Andern entschieden. Und Anna blieb nichts übrig, als aus dem Fenster zu gucken; obgleich sie längst nicht mehr hindurchsehen konnte; denn weicher, sehnsüchtiger Frühlingsregen beschlug die Scheiben; vereinzelte schwere Tropfen liefen daran herab, ruckweise beschleunigt durch die Erregung des Eisenbahnwagens - wie unaufhaltbare Tränen über enttäuschte Mädchenwangen.
Es dauerte in diesen Ferien länger als sonst, bis der Augenblick der rotfleckigen Reue kam. Und Erich selbst gab diesmal dem Gespräch die unpersönliche Wendung; denn er klagte das Schicksal an, weil er der Jüngere und nicht im Gegenteil der Ältere sei. Er malte Anna aus, welche Vorteile ihr davon erwachsen wären, wenn er sie ins Leben hätte einführen können, statt von ihr, der berechtigten Älteren, so manchen Tadel hören zu müssen. Anna meinte: »Mir ist jetzt oft, als wärest du der Ältere, Erfahrnere.«
Befriedigender hätte sie sich nicht äußern können. Er hatte natürlich längst gefühlt, daß es so war, ganz besonders seit dem Kuß auf dem Kornspeicher, aber - daß auch sie es fühlte!


Dreizehntes Kapitel
Nach den Osterferien sollte Erich die Berliner Universität beziehen, um Jura zu studieren, denn es war ganz selbstverständlich, daß er später einmal, wie sein Vater, Landrat des Kreises werden mußte, und nebenbei das kleine Gut Brocke bewirtschaften.
Das einzige, was Erich an seiner juristischen Laufbahn lockte, war die Aussicht auf die Referendarzeit in Kassel, wegen der dort üblichen »Leimakten«. Seine älteren Freunde hatten ihm erzählt, daß dort, um die jungen Referendare hereinzulegen, ganze Prozesse erfunden und ausgearbeitet werden. Aber dauernd vermochte dieser kleine Lichtblick ihn nicht darüber zu täuschen, daß ihm dieses Studium, wie auch das endliche Landen auf dem Regententhron seines Kreises, nicht gemäß war. Er schrieb kurz und ohne sentimentale Begründung an seinen Onkel und teilte ihm mit, daß er statt der juristischen Kollegs hauptsächlich Nationalökonomie belegt habe, da er vorhätte, sich dem zeitgemäßen Industrialismus zuzuwenden.

H
auptmann Helhusen bekam einen Anfall seines vererbten Jähzornes, der in den letzten Jahren nur noch selten auftrat, weil er sich mit seiner Gicht in der rechten Schulter schwer vereinigen ließ.
Es blieb ihm nichts andres übrig, als nach Berlin zu reisen. Anna durfte ihn begleiten; denn Brigitte hatte sie schon lange eingeladen; und auch sie war ergriffen von der großen, allgemeinen Sorge um Erli und mußte ihn sprechen.
É »Es tut mir leid, wenn ich euch Sorge verursache.« Erich sah Anna aus kleinen, müden Augen an, denn die Unterredung mit dem Onkel war lang und anstrengend; »aber im Grunde könnt ihr doch eigentlich ganz sicher über mich sein und Vertrauen zu mir haben, wenn auch nicht immer alles glatt geht.«
Sie atmete gedrückt; es war noch nie etwas glatt gegangen.

W
enn ich es nur verstehen könnte, Erli! Es kann doch dein Ernst nicht sein! Was willst du denn andres werden als Landrat!«
Erich drückte seine Zigarette eigensinnig im Aschenbecher aus, obgleich er sie eben erst angezündet hatte.
»Ja, natürlich! Das ist die Hauptsache! Was soll man werden!«
Er stieß wegwerfend die Luft durch die Nase.
»Alle Welt denkt nur, was sie wird und nicht was sie bleibt. Ich finde es schon genug, wenn ich unter den heutigen Verhältnissen ein anständiger Kerl bleibe, und das kannst du sicher sein.

D
ies lächerliche Vorurteil, daß man immer groß was werden muß! Ich habe hier Leute kennengelernt, die man in unsrer Gesellschaft gar nicht zuließe, nur weil sie nichts sind, höchstens Rennreiter; ich finde sie ganz scharmant; du glaubst nicht, was solche Kerls oft für einen Schneid haben; das ist mir doch lieber als die ganze Universitätskarriere.«
Anna fühlte sich ohnmächtig; sie kannte diese Leute nicht, was sollte sie dagegen sagen. Aber sie sagte doch etwas; von der Charakterförderung jeder pflichtmäßigen Arbeit und von der Befriedigung, die sie gewährt.

S
chon während sie sprach, merkte sie, daß es nicht das Rechte war und daß es klang, als hätte es ihre Mutter oder Tante Mieke gesagt. Erich machte denn auch das gekränkte Gesicht aus der Knabenzeit, und nachdem er eine Weile ärgerlich geschwiegen, sagte er: »Ich finde es einfach unmoralisch, irgend etwas zu arbeiten, was einem gegen die Überzeugung geht, nur damit man befriedigt ist. Ich habe das Gott sei Dank nicht nötig; ich kann auch so befriedigt sein.«

A
nna war diese Art philosophischer Richtung nicht gewöhnt und wußte nicht, wie gefährlich es war, sich darauf einzulassen.
»Wieso ging dir denn deine Arbeit gegen die Überzeugung?«
»Das ganze bürgerliche Gesetzbuch ist gegen meine Überzeugung«, beendete er diesen Punkt mit einem Blick, der sie auf ihre Sachunkenntnis verwies.
Anna zitterte vor Angst um ihren Erli, daß sie die linken Finger mit der rechten Hand festhalten mußte, weil ihre Gedanken anfingen, sich in einem großen traurigen Gefühl aufzulösen, das mit Tränen endigte; und dies mußte verhindert werden, sonst konnte sie Erli nicht retten.
»Erli, weißt du, was mir noch am unbegreiflichsten ist?« Er sah sie fragend von der Seite an und dachte sichtbar: »Das wird wieder was Rechtes sein.« »Was mich schon lange traurig macht - daß du gar kein Interesse für unsre Heimat hast und für Haus Brocke.«
»Um Gottes willen, laß mich mit der Klitsche in Ruh! Da müßte ich schon so eine Art Heimatskult treiben wie du. Der heutigen politischen Lage nach ist mit der Landwirtschaft überhaupt nichts anzufangen. Man versündigt sich geradezu an der Kulturentwicklung, wenn man die alten Traditionen aufrechterhält, anstatt sich am Aktuellen zu beteiligen.«

E
r hatte noch nie von Kulturentwicklung und Aktuellem geredet, nun war Anna erst recht hilflos.
»Du willst also wirklich zur Industrie?«
»Aber allerdings. Ich werde mich wenigstens dafür interessieren. Auf Erwerb will ich dabei nicht ausgehen. Ich finde es einfach unmoralisch, Geld zu verdienen, wenn man schon übergenug hat.«
Trotzdem er schon wieder etwas unmoralisch fand, womit er am empfindlichsten Annas beschränkte Weltanschauung traf, trotzdem redete sie über die allgemeinnützigen Möglichkeiten, die Reichtum gewähre, und über die Verpflichtung, die er auferlegt.
Wenn sie nur das nicht gesagt hätte! Er fand diese weltbeglückenden Ideen geschmacklos und lächerlich wie die Friedensposaune der Bertha von Suttner. Und es half nichts mehr, daß Anna die linken Finger mit der rechten Hand festhielt; sie fing an zu weinen und sagte mit unvorteilhaft gerötetem Gesicht: »Daß du auch gleich gekränkt bist - ich möchte dir doch nur helfen.«
Er zuckte mit einer Schulter und sagte: »Deine Ratschläge sind ja gut gemeint, sie kränken mich sicher nicht; aber anfangen kann ich nichts damit.« Und er öffnete die Tür, um anzudeuten, daß er die Unterredung endlich für beschlossen hielt.

H
auptmann Helhusen war wieder abgereist, da auf Brakenhorst mit dem Roden der Zuckerrüben begonnen werden mußte. Er hatte nichts erreicht mit seinem Neffen.
»Ich kann meinetwegen noch solange Jura studieren, bis ich mündig bin«, war sein äußerstes Entgegenkommen, als der Onkel ihn seine Macht fühlen ließ. Erichs höfliche Überlegenheit ärgerte ihn am meisten; schon, daß er jeden Satz mit »lieber Onkel« einleitete. Und auf alle Verweise wußte er eine Antwort; selbst die Vorstellung, welchen Kummer er seiner leidenden Mutter bereite, half nichts, obgleich er gegen sie immer sehr rücksichtsvoll war. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.02.2006