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Wenn du auch noch so wegwerfend über alles sprichst, was mir heilig und als das Wichtigste im Leben erscheint, ich weiß doch, daß du in deinem Innersten unruhig und traurig bist, weil du selbst kein Vertrauen hast, daß dich diese äußerlichen unedlen Anschauungen fördern. Und wenn du noch so gleichgültig tust, was aus dir wird - ganz tief in deinem Innern, wo der Geist der Kameraden, die du dir gewählt, noch nicht eingedrungen ist, da steht noch von früher die Sorge, ein guter, brauchbarer Mensch zu werden, wenn du es auch vergessen hast.«
Anna hätte diesen Brief über Nacht liegen lassen müssen. Aber sie schickte ihn fort, als er fertig war; und es standen scharfe Worte darin. Sie griff sogar seine Freunde an und nannte sie beim Namen.

G
ib dir nur einmal Rechenschaft darüber, ob diese Leute - zum Beispiel Tettow - dich fördern; ob du außer in Sport die Gemeinschaft mit ihnen kannst gelten lassen. Ich fühle, wenn ich an diese Leute denke, nicht nur Antipathie, sondern Mißtrauen gegen sie und ihr Leben. Aber ich weiß, du verachtest Gefühle, wenn man sie nicht beweisen kann - und ich kann sie nicht beweisen; ich kann dich nur bitten, selbst deine Augen zu schärfen und genauer zuzusehen.

I
ch habe das alles gesagt, ohne Rückhalt, in Gedanken an unsre gemeinsame, unvergleichlich schöne Jugend, und weil ich dich immer wie deine Schwester liebhatte. Wenn du jedoch die Gesinnungen deiner neuen Kameraden mit Wissen und Wollen zu den deinen machst, dann weiß ich nichts Gemeinsames mehr, das uns verbindet.«
Das schlimmste war, daß Anna seine Freunde verdächtigt hatte. Er widerlegte in einem sehr geschickten Brief jede ihrer Anschuldigungen durch Hinweis auf ihre ungenügende Kenntnis von allem, worüber sie schrieb, und behielt recht, da er den Brief sehr langsam verfaßte und höflich blieb.
Anna hatte wohl gefühlt, daß sie den Rest ihrer Freundschaft aufs Spiel setzte. Aber wie sie nun sah, was sie angerichtet hatte, daß sie Erli nur bestärkte, dadurch, daß sie in ihrer Erregung und Angst um ihn alles hingeschrieben, was sie bedrückte - als müßte sie ihn an den Schultern nehmen und ihn schütteln, damit er aufwachte und sich rettete - wie sie sah, daß jetzt alles zwischen ihnen aus war, da überkam sie eine solche Traurigkeit, daß sie an sich selbst verzweifelte.
Was nützten denn ihre guten Vorsätze, wenn sie nicht stärker waren als das Feindliche, Böse! Wenn sie es nicht einmal besiegen konnten!
Es war wieder ein neues Versagen, das sie zu den übrigen hinzurechnen mußte: die Musik, in der sie es doch nie zu etwas Überirdischem bringen könnte, die Pflichten als Haustochter, die immer mit kleinen und großen Verstimmungen der Mutter zu tun hatten, die längst überwundene Molkerei bei Fräulein Jürgenpott. Und nun das Bedrückendste: daß sie Erli, anstatt ihn zu retten, nur in seiner unerfreulichen Lebensrichtung bestärkte.
All diese Mißerfolge wären zum Verzweifeln gewesen, wenn nicht eine neue Möglichkeit gewinkt hätte, endlich auf einem Gebiet das Ganze, Vollkommene zu leisten. Es war nur bedauerlich, daß erst das Frühjahr abgewartet werden mußte, ehe sie die endgültige Erlaubnis für die Krankenpflege einholen konnte. Vorher mußte sie die Eltern nach Italien begleiten.


Z
u den Weihnachtsferien kam Erich nach Hause. Anna fürchtete sich vor dem Wiedersehen, vor seinem überlegenen, mitleidigen Blick.
Am ersten Feiertag ging sie mit den Eltern von alters her nach Haus Brocke hinüber. Als sie nun dort im Flur stand und Erich ihr aus dem Pelz half, merkte sie jeder seiner Bewegungen eine Freundlichkeit ab, die nicht nur zu den guten Manieren gehörte. Trotzdem die Stimmung steif und gezwungen war - denn Hauptmann Helhusen redete seinen Neffen nur an, wenn es ihm dringend nötig schien, - trotzdem blieb Erich gleichmäßig aufmerksam und hatte einen lieben Ausdruck in den Augen, ein bißchen verschämt, wie früher als Kind, wenn er mitten im Guten-Tag-Sagen und Dienermachen aufhörte, um tief aus seinem gesenkten blonden Köpfchen hervor zu erklären: »Is sseniere mich.«

A
nna war so bestürzt davon, daß ihr die Augen übergingen, weil sie vergaß, daß man nicht zu lange in den brennenden Christbaum sehen darf. Alles vergaß sie über der einen Gewißheit: er ist mir doch nicht böse.
Als sie sich wiedersahen in der Weihnachtsstube auf Brakenhorst, wo man immer am nächsten Morgen die neuen Bücher ausprobierte und Fräulein Jürgenpotts braune Sirupkuchen aß, da sagte er mal ganz beiläufig und knusperte dabei an einem großen Stück: »Du Anna, übrigens ich wollte dir nur sagen, du hattest mit deinem Brief doch mehr recht, als ich dachte.«
Sie wurde feuerrot und flüsterte: »Ach, sei doch still davon.« Und sie mußte sich zusammennehmen, daß sie ihn nicht ganz schnell umarmte - damit sie nicht wieder alles verdarb.

H
auptmann Helhusen hatte sich der vormundschaftlichen Verantwortung für seinen Neffen entledigt. Trotz der Bitten der Schwester, noch einmal Geduld mit ihm zu haben, blieb er fest und äußerte sich nicht mehr zu seinen neuen Unternehmungen.
Erich hatte sich ein ganz junges Vollblut gekauft, das er in dem Rennstall seines Freundes Tettow einstellte und selbst zuritt.
Wenn er auch nationalökonomische Kollegien belegte, so schien er sich doch mehr dem Industrialismus als Idee zuzuwenden und nicht so sehr als Tätigkeit. Und die Bewertung des Geldes schien ihm wichtiger als das Erwerben. Seine Freunde bestärkten ihn eifrig in diesem sozialen Bestreben, da sie auch viel Geld verbrauchten und zu Hause nicht einen Herrn Beimdieke hatten, der es sich gefallen lassen mußte, daß man ihn öfters um die Zusendung von Schecks behelligte.

D
em Administrator mißfiel dieser Eifer in der Geldverwertung aufs empfindlichste und regte ihn an zu langen, vorsichtigen Briefen, in denen er auf den ersten drei Seiten über wünschenswerte Anlage von Papieren berichtete, so daß Erich nie bis zur vierten kam, auf die der eigentliche Kern des Briefes gefallen war, nämlich, daß die Beschaffung derart umfangreicher Summen größte Schwierigkeit verursache und im Augenblick dringend zu raten sei, von bedeutenderen Ausgaben abzusehen.
Herr Beimdieke versuchte immer, sich durch eine längere Aussprache bei Hauptmann Helhusen zu erleichtern; denn er war ein Mann von Gemüt aus der Tecklenburger Gegend, und das G wurde bei ihm hart, sobald etwas »Cheld chekostet« hatte. Er pflegte von pekuniären Sorgen auf das Leben überzugehen und sagte: »Das kann auch nich chut sein für sonen jungen Mensschchen, wenn er so früh zu Chelde kommt.«

N
un aber waren ihm diese Aussprachen verdorben; denn der Hauptmann beschloß sie schon nach dem ersten Satz mit einem ärgerlichen: »Mich geht es nichts mehr an.«
Alle machten sich Sorge um Erich, von Herrn Beimdieke bis auf seine Mutter, die jedesmal weinte, wenn die Rede auf ihn kam, nur Anna nicht. Sie wußte jetzt, was alle andern nicht wußten, daß er - wie gefährlich es auch aussehen mochte - doch immer Erli blieb.

Fünfzehntes Kapitel
Als Helhusens im Frühjahr wieder in Italien waren, besuchte Erich sie in seinen Osterferien; denn Semesterschluß und -anfang war das einzige bei seinem Studium, worauf er peinlich hielt.
Anna hatte sich noch nie so auf sein Kommen gefreut.
Und sie gingen zusammen am steinigen Strande und stiegen die Höhen aufwärts zwischen dem alten Gemäuer, das von Blüten ganz zugeschüttet war. Anna blieb oft stehen und schaute über den bunten Flimmer hinweg, mit den fragenden dunklen Augen, die stets in eine unbegrenzte Ferne flüchteten.
»Sei mal ehrlich, Anna, eigentlich findest du es zu Hause doch schöner als hier!«

S
ie lächelte stumm und dachte, daß man eben nur soviel Schönheit fühlen kann, als man in sich hat.
Erich behandelte sie in der letzten Zeit mit väterlichem Stillvergnügen. Er hatte eine hohe, ernsthafte Stirn bekommen. Es war endlich nicht mehr zu merken, daß sie die Ältere war, deren unbequemer Lebensauffassung er sich doch zuletzt immer beugen mußte. Jetzt war er der weit Erfahrenere und versuchte hie und da, ihr Lebensfragen näherzubringen, die wieder andre Wichtigkeiten darstellten als Arbeit und Beruf.

E
r war längst nicht mehr so verschlossen wie früher. Jedesmal erzählte er von einem neuen Abenteuer, beschrieb er die Damen seiner Bekanntschaft in allen Einzelheiten ihrer eleganten Reize. Und selbst das Erlebnis damals auf dem Kornspeicher, das längst zu den vergilbten Erinnerungen gehörte, wurde ihr nun anvertraut. Die verregneten Fensterscheiben auf der Fahrt von Hannover konnte Anna ihr Leben lang nicht vergessen, aber es lag etwas Versöhnendes darin, wenn solch eine Angelegenheit nach langen Jahren von Erli zum Zeichen seines besondern Vertrauens benutzt wurde.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.02.2006