09.02.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Der zornige Schluß des Onkels hieß: »Mach, was du willst, ich habe mit dir darüber nichts weiter zu reden.«
Wenn die Art der Behandlung, die jetzt bevorstand, auch nicht angenehm war, so fand Erich diesen Ausgang doch ganz befriedigend, weil er ihn noch schlimmer erwartet hätte.

Anna sollte vierzehn Tage bei Brigitte bleiben. Hin und wieder verabredete sich Erich mit den beiden auf dem Tennisplatz. Dort stellte er ihnen seine Freunde vor, die sich mit ihnen unterhielten, während sie auf der Bank dem Match zusahen.

A
ls sie eines Nachmittags wiederkommen sollten, sagte Brigitte, sie hätte keine Lust. Anna fragte, schon nichts Gutes ahnend, nach dem Grund.
»Nein, weißt du, Anna, dein Vetter mag ja ein sehr netter Mensch sein - ich kenne ihn zu wenig - aber stundenlang mit seinen Freunden zusammenzusitzen, macht mir wirklich kein Vergnügen; ich begreife nicht, wie man mit solchen ausgesuchten Nullen verkehren mag.«
Es war Anna sehr peinlich, daß Brigitte auch diesen Eindruck hatte; denn ihr lag an einer guten Meinung von Erli, deshalb verteidigte sie diese jungen Leute mit allen Einzelheiten, die er zu ihrem Lobe erzählte - mit ihrem Schneid und sportlichen Leistungen - was jedoch wenig zu nützen schien.

B
rigitte hatte längst ihr Abitur gemacht und studierte Medizin. Außerdem war sie eine Stütze im Verein für Fraueninteressen. Anna begleitete sie in Sitzungen und Vorträge, denen jeweils ein längeres Zusammensein der Damen im Café folgte. Dann setzte Brigitte sie neben Fräulein Mannesmann, welche ein braunes Reformkleid und kurze, graue Haare trug. Sie behandelte Anna wie ein Schulkind, weil sie ihrem Verein nicht angehörte und zu wenig nach Frauenbewegung aussah; und redete meistens über sie hinweg mit der Juristin, von Qualitätsarbeit oder qualitativer Arbeit; sie erkundigte sich wohlwollend nach andern zukunftssicheren Studentinnen, und als die Juristin bei einem wertvollen Namen sagte, die hätte sich verlobt, zuckte sie mitleidig die Achseln und meinte lächelnd mit einer großzügigen Handbewegung durch ihr kurzes graues Haar: »Ich habe das Heiraten vergessen.«

A
nna fühlte ein großes Unbehagen in diesem Kreis, um den sie Brigitte immer beneidet hatte, und sie dachte doch wieder milder über diese Frauen, sobald sie mit Brigitte allein war und sie über ihr ernstes, notwendiges Streben sprechen hörte. Brigitte selbst war mit solch anmutigem Eifer dabei; von den Jungensmanieren aus der Pensionszeit war nichts übriggeblieben; sie wirkte echt weiblich, trotz der unbeschränkten Hingabe an ihr Studium.

A
nna beneidete die Freundin, wenn sie deren ausgefülltes, strebsames Leben mit dem ihren verglich.
»Ich würde doch an deiner Stelle versuchen, mir wenigstens eine geregelte Tätigkeit zu verschaffen«, sagte ihr Brigitte. Und Anna überlegte, was sie in den letzten Jahren so oft überlegt hatte, wie sie es wohl erreichen könnte.
»Das einzige, was Vater vielleicht erlaubte, wäre Krankenpflege«, sagte sie.
Brigitte fand, daß es doch wenigstens etwas sei, wenn auch nicht das, was Fräulein Mannesmann mit Qualitätsarbeit bezeichnete.

U
nd Anna verließ die Freundin mit dem Entschluß, ihre Mutter darüber zu befragen.
Sie scheute diesen Augenblick sehr und schob ihn hinaus.
Er fing auch nicht günstig an; denn die Mutter äußerte wieder das empfindliche »So!« wie damals bei der Frage Jürgenpott.

A
uch der Verlauf dieser Angelegenheit war ein ähnlicher; nur daß die stummen Mahlzeiten noch gefahrvoller lasteten; weil die verschwiegenen Dinge sich inzwischen hoch aufgetürmt hatten, wie loses Gestein; und dieser unheilvolle Berg drohte jedesmal einzustürzen und alles in der Nähe zu verschütten, sobald aus der Mitte seines Gerölls etwas hervorgezogen wurde.
Wiederum war es der Vater, der zu einer günstigen Wendung verhalf. Er sagte, als er von Annas Absicht hörte: »Du langweilst dich wohl hier?«

F
rau Sophie sah, wie Anna hilflos an diesem mangelnden Verständnis aufblickte, und sie fand, daß sie dem Vater sein Versagen deutlich machen mußte. Deshalb ging sie ihrerseits freundlich, ja liebevoll auf ihren Plan ein. Das einzig Peinliche war - weil die verschwiegenen Dinge, wenn auch nicht einstürzten, so doch ein wenig auseinanderrutschten, - daß die Mutter ein stets vorrätiges, gemäßigtes Weinen anfing, wie bei Todesnachrichten, und sagte: »Ach, liebes Kind, du kannst mir glauben, das allerbeglückendste für eine Frau ist doch, ihren eigentlichen Beruf in der Ehe zu erfüllen!«
Aber Anna glaubte es ihr nicht.


Vierzehntes Kapitel

Das Zusammensein in Berlin hatte Anna und Erli nicht einmal mit einem versöhnenden Abschied entschädigt. Und je mehr Zeit dazwischenlag, desto schmerzlicher fühlte Anna die Ferne zwischen ihnen.
Eines Sonnabend abends kam sie im Hofe an des Schäfers erleuchteter Wohnung vorbei. Milius stand vor der Tür, und wie sie mit ihm ein Gespräch anfing, bat er sie in die Stube. Seine Frau saß auf einem niedern Schemel und putzte mit derben Rucken die großen faltigen Stiefel. Sie beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, denn auf das feine Reden verstand sie sich nicht. Nebenan auf der Kommode bemerkte Anna eine aufgeschlagene Bibel. Milius sprach vom angenehmen Sonnabendabend und malte die bevorstehende Sonntagsruhe aus. Anna hätte ihn gern gefragt, ob es ihm nicht leid tue, daß seine Arbeit ihm nie erlaube, nach Harvelinghausen zur Kirche zu gehen; aber so etwas konnte man ihn nur draußen auf dem Kampe fragen, nicht hier, wo die Frau dabeisaß und mit derben Rucken Stiefel putzte.
Anna hatte schon gute Nacht gesagt und wollte gehen; da rief Milius sie nochmals zurück: »Och, Fräulein, wenn ich bitten dürfte« - und er wies mit seinem vorahnenden Zeigefinger nach der Bibel, die auf der Kommode lag - »wenn Sie uns heute wollten das Kapitel vorlesen; wir sind am Propheten Daniel.« Und er gab Anna die Bibel in die Hand und stellte die Öllampe vor sie hin. Die Frau ließ sich nicht stören; aber als Anna las, was alles dem König Nebukadnezar und seinen Völkern widerfuhr zur Strafe für Sünde und Missetat, da mußte auch die Frau im Hin und Her der Hände innehalten, und ihre Bürste blieb erschrocken in der Luft stehen.

A
ls das Kapitel zu Ende war, fing Milius an, es auszudeuten. »Daß der Höchste Gewalt hat über der Menschen Königreiche - jawohl, und das vergessen wir man immer wieder - deshalb soll es uns nochmal just so gehn wie denen: Grasfressen« - das gefiel ihm besonders - »Grasfressen wie die Ochsen«, und er zeigte dabei erläuternd auf den Boden.
»Das können Sie mich glauben, die Menschen sind zu vorwitzig geworden; das geht alles so leichtfertig dahin.« Nach diesem Wort machte er eine Pause und sah Anna eindringlich an, und er sah wohl befriedigt, daß sie errötend dabei an Erli dachte, und er fuhr fort: »Ja, das geht nich gut ab - was da in der Bibel steht, soll woll auch heute noch in Erfüllung gehen, wenn die Menschen kein Einsehen haben.« Anna sah, wie sich sein Profil in vergrößertem Schatten auf der grünen Wand hin- und herbewegte. Die Wichsbürste der Frau konnte ihre Tätigkeit noch nicht wieder aufnehmen bei solchen Prophezeiungen.

D
a leben wir so angenehm hin in unsrer Gewöhnlichkeit und denken, so muß das immer seine Richtigkeit haben; aber denn« - er holte weit mit den Händen aus - »denn kömmt es plötzlich von weitem her, das Verderben, und bloß weil die Menschen keine Achtung haben auf sich.« Er hob den Kopf hoch über das Irdische hinaus und faßte alles kopfschüttelnd zusammen in einem hoffnungslos zu Boden gewendeten: »O Welt!«

E
r benutzte wieder den langen Zeigefinger: »Da drinne im Herzen da kömmt die Unruhe her, denn da weiß doch ein jeder, wie er von Rechts wegen sein sollte.« Und nun erging er sich in den Versuchungen der Welt, die in seiner Phantasie auf apokalyptischen Tieren einherritten wie gefährliche Räuberhorden.
Milius war hellsichtig; das wußte Anna schon als Kind. Und es blieb ihr kein Zweifel darüber, daß er mit seinen prophetischen Warnungen recht hatte. Das war die Stimme vom Himmel, die sie hören mußte, um ihre ernste Mahnung weiterzugeben.
Als sie in ihrer Stube saß, nahm sie einen Briefbogen; und die Drohungen im Munde des Propheten gegen Könige und Völker übertrug sie auf die Anklagen in ihrer Seele gegen Erli.

E
s war die Antwort auf einen Brief von ihm, worin er ihren verschiedenen Standpunkt dem Leben gegenüber noch einmal ausführlich dargelegt hatte und dabei Annas ernsten, auf Pflicht gerichteten in so kränkender Weise lächerlich gemacht, daß sie erst dieser Stärkung durch Milius bedurfte, ehe sie zu antworten vermochte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.02.2006