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Frau Sophie hatte sich daran gewöhnt, ihrer Tochter nicht dreinzureden; aber es war ihr ein tiefer Kummer, daß Anna nicht heiraten wollte, sondern immer nur die Sehnsucht nach irgendeinem Studium oder Beruf im Herzen trug.
Mit ihrem Mann konnte sie darüber nicht sprechen, der sagte gleich, das wäre alles Unsinn, das Mädel sei ja noch jung und würde schon zur Vernunft kommen. Eingehender pflegte er nicht bei dergleichen Dingen zu verweilen.

M
it Anna konnte Frau Sophie erst recht nicht reden; und das machte sie der Tochter zum Vorwurf - daß sie durch stumme Abwehr es nicht zuließ, an diese Dinge zu rühren. Und so blieben sie zugedeckt, doch nie vergessen; denn es waren ganz besonders Blicke und kleine Bögelchen um den Mund, die ihnen galten, die kannte Anna und beteiligte sich nur an dem unliebsamen, stummen Bedauern über das Vorhandensein dieser Dinge.


Zwölftes Kapitel
Seit Erich achtzehn Jahre alt war, kam er öfters nach Hause, denn er mußte zu allen Ausgaben und Änderungen im Gutsbetrieb von Haus Brocke seine testamentarisch geforderte Einwilligung geben. Herr Beimdieke, der Administrator, und Inspektor Huchzermeier fanden, daß er für seine Jugend außerordentlich viel von der Wirtschaft verstand, da er bei den Sitzungen meist stille schwieg und mit dem Bleistift auf seinem Protokollblättchen kritzelte, ohne durch unbequeme Einwände die Aussicht auf Durchführung ihrer Projekte zu trüben.

E
r hatte nun seine Stelle als Eleve angetreten auf einem großen Pachtgute in der Provinz Hannover. Um vier Uhr mußte er aufstehen und die Leute auf den Rübenfeldern beaufsichtigen, »der Herr Verwalter«, so wurde er genannt.
In seinen Briefen stand von ungeheurer Arbeit, von großer Strenge seines Prinzipals, des alten Försters, der - nicht immer - aber manchmal selbst aus Gutmütigkeit zu schimpfen anfing und der Töchter hatte, die, trotz übermäßigen Umfangs, bemüht waren, den Herren Verwaltern zu gefallen.

E
rlis Briefe machten großen Eindruck. Dem Onkel war es eine angenehme Überraschung, daß er sich ohne Widerrede in die strenge Zucht des Pächters fügte, daß er sich dem günstigen Einfluß dieser tüchtigen Leute scheinbar nicht entziehen konnte.
Anna verursachten seine Briefe Mitgefühl. Er sparte ihr gegenüber nicht mit sehnsüchtigen Wendungen; er schilderte den Mondschein vor seinem kleinen Fenster und seufzte: »Ach, wer jetzt unter den Parkbäumen wandern dürfte, statt hier bis spät in die Nacht über den Monatsabschlüssen zu sitzen.« Anna dachte natürlich, er meinte die heimatlichen Parkbäume, und sie tröstete Erli mit wehmütigen Gedanken und genoß für ihn die Vorfreuden auf seine Urlaubstage.
Aber wenn er dann kam und die ersehnten Mondscheinabende zu seiner Verfügung hatte, dann schien die Wirklichkeit seinen Träumen keineswegs zu entsprechen. Er war schweigsam bis zur Unfreundlichkeit, so daß man nur annehmen konnte, die strenggeregelte Tätigkeit sei ihm zur süßen, unentbehrlichen Gewohnheit geworden.

A
nna litt bis zu Tränen in solcher Zeit, deren Herannahen sie jedesmal mit der Gewißheit erwartete, daß sie voll Freude sein müßte, daß Erli mit ihr über die Felder gehen würde, beglückt, wieder in der Heimat zu sein und neben ihr zu wandern.
Es war ja auch immer nur die ersten Tage so anders. Wenn Erich in Annas stillem, traurigem Wesen merkte, was er angerichtet hatte, dann überkam ihn die gute, erschrockene Knabenreue mit den roten Flecken auf Stirn und Backen; und er benutzte einen Augenblick, der schnelle Ablenkung erwarten ließ - zum Beispiel vor einer Ausfahrt, wenn die Pferde schon fertig angespannt waren - und sagte schnell mit tiefer Stimme, die bei ihm noch etwas ungewohnt klang: »Gelt, Anna, ich bin recht abscheulich gewesen«, und mit einem Ruck seines Oberkörpers versicherte er: »Ich bin mordsschlechter Laune.«

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s wäre Anna unmöglich gewesen, sich noch mit einem Worte zu beklagen. Denn in solchen Augenblicken hob sich für sie all seine Unart weit über das Persönliche, Kränkende hinaus, durch einen kurzen ahnungsvollen Blick in Schwierigkeiten und Nöte, von denen sie selbst nichts wußte, die sie aber mit stiller Ehrfurcht gelten ließ. Das mochte Erli wohl dunkel empfinden; denn nach solch einer kurzen Aussprache war er so lieb zu Anna, daß sie alles Vorhergegangene vergaß und beglückt war.
Doch die Enttäuschungen der ersten Tage wurden durch den guten Schluß des vorigen Beisammenseins nicht verhütet; sie kehrten wieder. Am schlimmsten war es, als Erli sein Verwalterjahr beendet hatte und über Ostern nach Hause kam.
Anna holte ihn in Hannover ab; das hatten sie beim letzten Abschied so ausgemacht. Sie dachten es sich besonders schön, in der Bahn schon alles Wichtigste zu erzählen. Anna fiel immer noch etwas ein, was besprochen werden mußte. Und weil Erli nun erkannt hatte, wie befriedigend eine ordentliche Tätigkeit ist, würde er ihr auch gewiß bei der Frage helfen, welch einen Beruf sie wohl ergreifen könnte; denn es ward immer quälender, die Zeit so vorüberziehen zu lassen, ohne ihr mit einer guten Last auf dem Rücken nachzugehen.

Erli saß ihr in der Bahn gegenüber, an das Polster gelehnt, und äußerte nicht die geringste Lust zur Unterhaltung. Er hatte sich schräg über zwei Plätze ausgestreckt und schloß die Augen halb und seufzte hin und wieder.
Doch Anna sah wohl, daß es keine Müdigkeit war. Sie blickte unwillkürlich an ihrem Anzug herunter, ob ihm etwas nicht recht sein mochte, oder was sonst ihn an ihr enttäuschen konnte - etwas mußte es ja sein, sonst hätte er doch mit ihr gesprochen. Sie versuchte schon gar nicht mehr, ihn anzureden, denn er antwortete nur mit einem halben Satz und schloß die Augen wieder.

D
achte er wehmütig an die Stätte seiner Tätigkeit zurück, an das kleine einfache Pächterhaus? Ja. An sein efeuumwachsenes Fenster dachte er. Denn dorthin schauten jetzt gewiß vier Augen - drüben vom Schloß her - Bertel und Inge, die blonden Komtessen, die den alten Pächter zur Verzweiflung gebracht hatten, weil er sich nicht beschweren konnte, wenn der kleine Verwalter von ihnen zum Tennisspielen gebeten wurde; wie sehr auch die eignen Töchter seinen Zorn zu schüren verstanden; das einzige, was ihm zu tun übrigblieb, war, den Verwalter anzuwettern, wenn sich die Folgen dieser unliebsamen Nebenbeschäftigung zeigten, in Verschlafen, Vergessen - dies war das einzigste, was er vermochte - und war nicht viel.

A
ber wenn Erich jetzt die Augen solange geschlossen hielt, dann dachte er an den letzten Abend. Der Alte hatte ihm natürlich aus Rache keine übrige Zeit gelassen. Es war ein Kunststück, auch nur einen Augenblick herauszufinden fürs Abschiednehmen. Der Besuch im Schloß galt nicht. Da mußte er sich der alten Gräfin widmen, die ihm ohnedies nur unbequem war, obgleich sie seinen Umgang mit den Töchtern sehr befürwortet hatte; aber sie kam manchmal und setzte sich mit einer Handarbeit auf den Tennisplatz.
Es war doch eine glanzvolle Idee von ihm gewesen, erst nach Feierabend die Säcke auf dem Kornboden zuzubinden. »Um sechs Uhr bin ich dort bei der Arbeit«, hatte er den beiden gesagt.
Natürlich waren sie es, als die schmale schiefe Treppe unter vorsichtigen Schritten knackte.
Sie mußten ihm erst helfen beim Zubinden, denn dazu allein brauchte man noch das Tageslicht.
Dann setzte man sich auf den Balken und sprach von vergangenen Zeiten. Doch nur, solange das Dachgebälke vor ihnen noch sichtbar blieb. Je mehr es entschwand, verstummte man ebenfalls; nur ein leises »Ach ja« überlebte das Tageslicht. Was sollte jetzt Erinnerung! Es war ja noch Gegenwart, sparsame, kostbare Gegenwart!

E
rli saß in der Mitte; links Inge, die jüngere, rechts Bertel, die schon auf Hofbällen tanzte und drei Jahre älter war als Erli. Aber sie hatte das nie merken lassen, sondern ihn seines eleganten Tennisspiels wegen mit gleicher kameradschaftlicher Hochschätzung behandelt wie Inge.
Je mehr sich nun der Raum um sie in Dunkelheit entfernte, desto näher hörte Erich rechts neben sich den betrübten Atem der drei Jahre älteren Bertel. Er empfand einen Augenblick seinen landwirtschaftlichen, vielgeprüften Anzug und seine vordringlichen Wasserstiefel als peinlich störend; doch der versöhnliche Duft des alten Gebälkes und des Kornstaubes machte alles gut.

Jetzt hörte er, daß Bertel leise vor sich hinweinte. Ihre Hand lag so nah - er mußte sie tröstend in die seine nehmen. Da geschah das Unfaßliche: da lehnte ihr Kopf an seiner Schulter, und der Duft des Kornes löste sich auf in dem weichen krausen Haar, das er entzückt mit seiner Wange berührte É
Links neben ihm die jüngere Inge sagte noch manchmal »ach ja!« denn sie war die einzige, die noch reden konnte É
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.02.2006