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Das war ja eben das Furchtbare, daß man es nicht sehen konnte - und dennoch ging die Mutter dort aus der Tür, die im nächsten Augenblick zur Äußerung des empfindlichsten Vorwurfes benutzt wurde, denn sie flog hart ins Schloß, daß dem Schlüssel angst und bange wurde.
Da stand nun Anna in dumpfer Vorahnung der kommenden Tage: wenn bei den Mahlzeiten auf der großen Hängeuhr der Zeiger nicht vorwärts rücken wollte, als sei auch er im Gang behindert durch gekränkte Blicke und schweigsame Vorwürfe É
Sie stand noch, als das Mädchen kam, um den Eßtisch zu decken. Sie wollte gehn. Da hörte sie zwischen dem Zittern der Teller und Gläser ein verräterisches, mühsames Atemholen. Und sie sah, daß das Mädchen verweinte Augen hatte und daß mit roten Flecken auf ihren Backen geschrieben stand: »Die Jürgenpott!«
Anna wurde kleinmütig ums Herz. Langsam und leise ging sie aus der Tür. Dann aber hob sie den Kopf und dachte: »Je nun - bei dem ewigen Hin und Her in der Küche und bei der Hitze am Herd - da soll einer nicht manchmal die Geduld verlieren!« Aber - und sie dachte wieder, daß nun bald die erste solch peinvolle Mahlzeit beginnen würde - und mit einem innern Gefühl von Trotz und einem äußern Anschein von Entgegenkommen suchte sie ihre Mutter auf, die vor dem Wäscheschränk stand und große Schichten Tischwäsche an ihren Platz verwies; und sie sagte: »Wenn es nicht dein Wunsch ist, Mutter, will ich selbstverständlich nicht bei Fräulein Jürgenpott den Haushalt lernen.«
Hätte sie nur gesagt: »den Haushalt lernen«, so wäre es der Mutter möglich gewesen, ein Wort dagegen zu sagen, etwa, daß es doch noch manches andre zu lernen gäbe, aber da sie sagte: »bei Fräulein Jürgenpott«, so konnte sie das nicht, der Angst wegen, daß die Jürgenpott dadurch nur stärker würde; deshalb antwortete sie, als sie gerade einen schweren Stoß Wäsche hob, daß sie kaum sprechen konnte:
»Nicht mein Wunsch - was heißt das? Meinetwegen kannst du ruhig den Haushalt lernen.«
Anna hatte damit nichts erreicht. Im Gegenteil, die Mahlzeiten mit den gekränkten Blicken und schweigsamen Vorwürfen kehrten um so häufiger wieder, da es nicht nur galt, diesen gewesenen Groll zu überwinden, der die Hängeuhr beklommen machte; sondern das Zukünftige, das sich irgendwie daraus entwickeln mußte, schwebte um den hellgrünen Lampenschirm. Denn dorthin sah man unwillkürlich, wenn nicht geredet wurde, weil es der einzig helle, farbige Punkt war in dem dunkelbraunen Eßzimmer.
Eines Tages fragte die Mutter endlich:
»Anna, warum besinnst du dich eigentlich solange mit dem Ausführen deines Vorsatzes; ich warte jeden Morgen, ob du zur Zeit aufstehen wirst, um in der Molkerei zu helfen.«
Sie sagte es mit Absicht vor dem Vater, weil es sicherer war, als allein mit Anna dies gefährliche Thema zu berühren, das weder Schelten erlaubte, noch Verbieten.
Anna bekam einen roten Kopf und sah vor sich hin.
»Wie, Molkerei willst du lernen?« fragte der Vater erstaunt. »Sieh mal an, das ist eine gute Idee - das freut mich. Na, und du fürchtest dich nicht vor der Jürgenpott?«
»Nein.«
»Bravo!«
Es wäre keine glücklichere Lösung zu finden gewesen. Frau Sophiens Stimme ging erleichtert zu einer Unterhaltung über. Wenigstens hatte sie noch etwas versetzt bekommen, die Jürgenpott!
Nun konnte Anna ruhig den Haushalt bei ihr lernen.

Morgens um halb sechs, wenn gemolken war, mußte sie im Milchkeller sein; denn nun wollte sie auch richtig ein Mädchen ersetzen; sonst gab es keine Befriedigung.
Die ersten Tage waren die schönsten; solange sie müde wurde von der ungewohnten Anstrengung beim Heben der schweren Kübel und Drehen von Zentrifuge und Butterfaß; solange sie genau aufpassen mußte auf die Temperaturen der Milch und mit Hilfe ihrer Physikbücher die Funktion der Zentrifuge mit den Gedanken verfolgte, während Fett- und Magermilch in dem geschlossenen Behälter ihre eignen Wege gingen.
Der Vater freute sich, wenn sie so begeistert bei Tisch über diese Dinge sprach, und auch Frau Sophie wäre dieser häusliche Eifer sehr willkommen gewesen, da sie auf diese Weise abgelenkt wurde vom Erträumen irgendeines unerfüllbaren Berufes - wenn es sie nicht immer noch gekränkt hätte, daß sie lieber bei Fräulein Jürgenpott Molkerei lernen wollte, als sich unter ihrer Aufsicht im Versorgen der Wohnräume üben.

So unbarmherzig wie Anna es damals in der großen Erregung für wünschenswert fand, wurde der Musik doch kein Ende gemacht. Sie fuhr nach wie vor zur Gesangsstunde; und wenn es beim Üben nicht nach Wunsch ging, war es längst nicht mehr so aufregend, weil der Gedanke tröstlich nahe lag, daß die neue anstrengende Tätigkeit in der Molkerei schuld sein möchte.
Annas Tage waren so ausgefüllt, daß sie oft nur spät abends in der Ruhe ihres Zimmers dazu kam, in den Büchern von Brigitte zu lesen und in der »Frau«, die sie halten durfte. Und all das kluge Wissen in diesen Bänden und Zeitschriften bekam dadurch noch etwas besonders Geheiligtes, Unerreichliches. Brigittens Briefe, die von den großen Erfolgen ihres Studiums erzählten, bestärkten auch auf diesem Gebiet den Genuß eines schmerzlichen Entsagens, besonders wenn der Postbote sie mittags um zwölf brachte, wenn sie müde war von ihrer Tätigkeit.
Mit der Zeit jedoch verlor die Arbeit bei Fräulein Jürgenpott an Reiz. Der mannigfaltige Charakter der Milch war nicht mehr tiefer zu ergründen; die klei-
nen Küken und Puter schwebten nicht mehr in Lebensgefahr wegen feuchter Witterung, so daß man sie über Nacht in Körbchen gebettet in den noch gerade richtig warmen Backofen schieben mußte, den Fräulein Jürgenpott mit dem Zipfel ihrer blauen Kattunschürze und einem zärtlich-dicken Finger zu öffnen pflegte. Die schon abgeblaßten gelben Entchen waren zufrieden, wenn man einen großen Haufen Salat vor das Drahtgitter ihrer Behausung hinwarf und ihnen das genügende Alter zuerkannte, auf dem Teich zu schwimmen. Die Bereitung des Futters wußte sie auswendig, wie das Drehen der Zentrifuge; man tat es eben und dachte dabei an alles, was man Besseres tun könnte.
Abends ging Anna mit großen schnellen Schritten durch die Felder und Wiesen; am liebsten, wenn der Wind ihr entgegenkam von den heidigen Hügeln am Horizont, hinter denen immer die weite Welt gelegen hatte; starker, junger Wind, der die Ähren durcheinanderjagte.
Aber der machte auch nicht müde, der regte nur die ungenutzten Kräfte auf, wenn man so mit vorgestreckter Stirn und zerzaustem Haar gegen ihn ankämpfte.


Zehntes Kapitel
Vor den Tannen auf Brakenhorst stand die heiße Sommerluft still. Das Korn war reif; aber die Bauern warteten auf den warmen trockenen Erntewind, der noch jedes Jahr gekommen war; eher fingen sie nicht an zu schneiden É
Erich (so wurde er jetzt von allen genannt, nur Anna sagte noch Erli) kam Anfang August in die Sommerferien nach Hause. Der Urlaub seines Freundes Walter begann kurz darauf. Jeden Morgen, wenn Anna kaum aufgestanden war, hörte sie schon ihre Pferde durchs Tor trappeln, und bis sie zum Frühstück herunterkam, standen die beiden im Flur, und ihre Scheitel waren längst vor dem großen Spiegel in beste Ordnung gebracht.

E
rich sah stolz zu seinem Freunde Walter auf und genoß mit jedem Atemzug, wie der den Raum beherrschte, durch das weiche, gepflegte Leder seiner Reitstiefel, durch die russische Zigarette und das lilageränderte Taschentuch, das aus der Brusttasche seiner hellen Litewka stets mit einem Zipfel herauszusehen hatte. Er war groß und schlank gewachsen, wie es die Pflicht ist eines jeden Düsseldorfer Ulanenoffiziers; darum beugte er auch die Schultern unter der Tür, obgleich er noch lange nicht anstieß.

B
eim Kaffee war jedesmal die ganze Zuckerdose leer; denn die Pferde gingen vor. Erich prahlte mit irgendeinem unerhörten Hindernis, das sie auf dem Herweg spielend genommen, oder mit dem Durchreiten eines breiten Grabens an der tiefsten Stelle, jedenfalls war es immer etwas, das Anna nicht hätte mitmachen können.
Sie war diese Art bei Erli ja schon gewohnt in den letzten Jahren und hatte sich schon oft genug darüber betrübt, wenn sie auch genau wußte, daß er eigentlich ganz anders war; aber kränkend - so kränkend, daß man das Butterbrot fast nicht herunterschlucken konnte, - wurde es doch erst in Anwesenheit eines derartigen Dritten.

Z
um Glück ließ Walter sich nicht davon beeinflussen, so daß dann die gemeinsamen Ritte in den warmen Sommermorgen, jeweils nach dem Frühstück, ungetrübt verliefen, weit angenehmer als früher mit Vater, denn der ließ sie oft, wenn sie das Pferd nicht gleich in den richtigen Galopp brachte, auf einer breiten Wegkreuzung Renvers in der Runde reiten, und der Renvers war und blieb ebenso unheimlich wie die Bruchrechnungen früher bei Herrn Kandidat Busse - Lokis rechte Schulter und linke Hinterhand wollten nie in einer geraden Linie aufgehen; und dann wurde Vater böse.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.02.2006