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Nette Lieder! Wenn man nicht einmal merkte, daß sie beglückend oder qualvoll waren!
Eines Tages schloß sie mitten im Üben den Klavierdeckel und sank schluchzend in den nächsten Sessel. Woher die Tränen kamen, wußte sie nicht; denn auf ihr Herannahen hatte sie nicht geachtet; sondern hatte nur den einen Takt hartnäckig wieder und wieder geübt. Wenn sie die Augen schloß, hörte sie doch, wie er klingen mußte! Sie versuchte noch einmal; nein - so nicht. Und plötzlich standen keine Noten mehr vor ihr auf dem Pult, sondern mit Flammenschrift die Gewißheit, daß sie nie in dem großen, unbegrenzten Raume, wo die Kunst wohnt, Einlaß bekommen würde. »Und dann hat es überhaupt keinen Sinn«, sagte sie noch einmal mit aller Strenge zu sich selbst, als hätte sie nun lange genug Geduld gehabt, »wenn ich nicht weiß, daß ich einmal so singen kann, daß die Menschen auf die Knie sinken und entweder leben wollen oder sterben - wenn das nicht sein wird, hat es überhaupt keinen Zweck.« Und sie faßte die Noten und warf sie auf den Ständer, als hätten sie zur Sühne auf ewig dort liegenzubleiben.

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ber wie sie die Noten nicht mehr in der Hand hielt, merkte sie plötzlich, daß sie das einzige von sich geworfen hatte, was ihren Tagen Sinn und Wert gab. Und die Tränen wurden heftiger. Denn es war eine große, allgemeine Traurigkeit, die endlich diesen würdigen Sammelpunkt gefunden hatte.
Anna erhob sich an dem harten, grausam schönen Entschluß, der Musik nun ein vollkommenes Ende zu bereiten, da ihr die große Kunst versagt war und da sie der dringenden Forderung in sich auf irgendeine Weise folgen mußte: etwas im Leben ganz zu erfüllen.
»Wenn du es auf diesem Gebiete nicht fertig-
bringst, so wähle ein anderes«, sagte sie zu sich wie
eine Lehrerin, und weil jetzt große Strenge das einzige Mittel blieb, so beschloß sie, sich dem Haushalt zu widmen. Bei diesem Gedanken kamen die Tränen aufs neue. Denn sie fühlte das Furchtbare, Erdrückende: daß sie auf diesem Gebiete erst recht nicht das Ganze, Lebenswerte zu leisten vermochte. Bei der Musik hatte sie wenigstens den heiligen Willen und die vorwärts drängende Sehnsucht auf ihrer Seite; wenn sie aber die kleinen häuslichen Pflichten besorgte, die Mutter ihr auftrug - Blumen gießen oder im Salon Staub wischen - dann war ihr heiliger Wille und ihre vorwärtsdrängende Sehnsucht irgendwo anders, in weiter Ferne, und keineswegs zu ihrer Verfügung.

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rotz dieser Erkenntnis ließ Anna nicht ab von der Strenge gegen sich. Zum Glück fiel ihr das Richtige ein: Wie, wenn sie bei Fräulein Jürgenpott, der Haushälterin, die Wirtschaft erlernte! Dieser Plan schloß beides in sich, das heroische Verzichten auf die geliebte Musik und das Ergreifen einer neuen Tätigkeit, die so viel Geheimnisvolles in sich schloß, daß die Möglichkeit irgendeiner Befriedigung übrigblieb, wenn auch einer untergeordneten; aber Rangstufen gibt es ja nicht im Reiche Gottes, fiel es ihr zum Troste ein, denn die »Treue im Kleinen« war eines von Herrn Busses Lieblingsthemen gewesen, und hatte sich infolgedessen so eingeprägt, daß sie in allen möglichen philosophischen Formen vom »Sinn und Inhalt des Lebens« notwendig wiederkehren mußte.
Und Anna ging zu ihrer Mutter mit der Bitte, sie möchte ihr doch etwas Richtiges zu arbeiten geben.

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rau Sophie versicherte, sie hätte genug zu tun, wenn sie ihr im Haushalt ordentlich helfe; und weil Anna vergessen hatte, die Blumen in der Veranda zu gießen, sagte sie zum Beweise: »Siehst du wohl!«
Die Mutter fühlte dies große, unbequeme Streben, das über Anna gekommen war; und weil sie nicht wußte, wie das zu verwirklichen wäre - es auch nicht wünschenswert fand - schien ihr jedes Versagen in den kleinen täglichen Pflichten willkommen, um zu zeigen, daß diese Aufgaben durchaus genügten.
Dadurch wurde Anna ihre kleine Tätigkeit und große Leere nicht lieber. Und jetzt ließ sie nicht ab, bat ihre Mutter, sie möchte ihr erlauben, die Milchwirtschaft und Geflügelzucht gründlich zu erlernen bei Fräulein Jürgenpott, der Wirtschafterin.
Frau Sophie fand es ganz unmöglich.

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räulein Jürgenpott galt nämlich allgemein für eine Here. Ihr Großvater hatte mal einen Menschen totgeschlagen, und sie hätte es schon wie oft beinahe getan, wenn nicht immer am entscheidenden Höhepunkt ihrer Wut die Augen übergegangen wären, daß sie nichts mehr sehen konnte. Besonders die jungen Verwalter fanden sich oft in solcher Lebensgefahr, denn die liebte sie; von einem behauptete sie sogar schluchzend, daß er sie habe heiraten wollen; doch veröffentlichte sie es erst nach Jahren, als der Postbote eines Morgens seine Todesanzeige brachte.
Alle fürchteten sich vor Fräulein Jürgenpott. Keine der Mägde konnte ihr etwas recht machen. Sie riß ihnen den Wischlumpen aus der Hand, um selbst die Kellertreppe aufzunehmen. Hinterher heulte sie in ihrer Stube und klagte stundenlang, daß sie überangestrengt werde.

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ur Anna fürchtete sich nicht vor ihr. Sie hatte sie immer bewundert. Wenn sie ihr früher Sonntags mal in ihrer Stube einen Besuch machte und neben ihr auf dem schwarzen Ledersofa saß, dann sang sie, die böse Jürgenpott, die jeder fürchtete: »Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh, wer deckt sie mit schützenden Fittichen zu« und sang es mit weich ineinandergezogenen Tönen. Dann machte es beinahe ebenso Herzklopfen, sie dabei anzusehen, wie den alten blinden Mann mit der Drehorgel, der öfters auf den Hof kam und auch sang: »Wo findet die Seele É« Nur daß dabei die Drehorgel immer noch den ersten Vers quietschte, während er schon den zweiten anstimmte. Und so war es Annas Lieblingslied geworden, weil der blinde Mann es sang und Fräulein Jürgenpott.
Annas Bewunderung für diese Wirtschafterin rührte auch von den Gewitternächten her, früher, wenn die Eltern mal verreist waren. Wenn ihr Kinderfräulein sie weckte, ihr halb im Schlaf ein Mäntelchen über den Nachtrock zog und sie durch die langen dunklen Gänge führte, die plötzlich ganz voll standen von den Feuern der Blitze.
War das eine Erlösung, wenn man bei der Jürgenpott in der Gesindestube ankam, wo die Lampe brannte und sämtliche Mägde halb angezogen, mit kleinen, dünnen Zöpfen, in den Ecken hockten!
Alle zuckten sie zusammen, wenn es blitzte und gleich darauf der Donner wütend, mit Pfeifen in der Luft, über den Teich kam - nur Fräulein Jürgenpott stand aufrecht am Fenster und sagte, ob es irgendwo eingeschlagen hätte und wo das Gewitter hinzöge.
Alle fühlten sich geborgen bei Fräulein Jürgenpott, auch die Mägde, die tagsüber vor ihr zitterten. Und die kleine, zu fest eingehüllte Anna sah aus der Sofaecke zu ihr auf, wie sie am Fenster stand und über Donner und Blitze verfügte.

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enn dann laut und beruhigend der Regen niederprasselte, kam es auch von Fräulein Jürgenpott, denn sie sagte, daß nun die Gefahr vorüber sei, und schickte alle wieder zu Bett É

Warum sollte Anna nicht bei Fräulein Jürgenpott den Haushalt lernen?

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m sie davon abzubringen erzählte ihre Mutter wieder all die furchtbaren Geschichten aus den ersten Jahren in Brakenhorst, wie schwer sie ihr das Leben gemacht hätte; daß sie oft tagelang nicht wagte, die Wirtschaftsräume zu betreten. Die Jürgenpott betrachtete nach ihrer langen Alleinherrschaft die junge Frau als Eindringling. Der hatte es einfach recht zu sein, wie sie es machte. Wenn sie in die Küche kam, waren alle Töpfe fest zugedeckt, und die Wirtschafterin bekam schon einen roten Kopf vor ärgerlicher Kränkung, wenn sie nur fragte, was gekocht werde. Doch war sie niemals unfreundlich, sondern hatte stets ein mühevolles Lächeln in den wasserblauen Augen, und ihre Stimme, die selbstbewußt aus dem zurückgepreßten Hals kam, erinnerte mit jedem Wort an ihre unwiderrufliche Tüchtigkeit.

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u mir ist die Jürgenpott meistens sehr nett gewesen«, sagte Anna darauf und wußte nicht, was sie tat.
»So«, meinte die Mutter - in einem Ton, der Anna darüber aufklärte; denn sie sah, wie der Ärger auf ihrem Antlitz auseinanderlief, wie sich ein Knäuel von Falten zwischen den Augen aufwickelte - all dieser Ärger der früheren Sonntagnachmittage, wenn Anna, statt bei ihr in der Wohnstube zu sitzen, plötzlich verschwand, um der Jürgenpott auf ihrem schwarzen Ledersofa Gesellschaft zu leisten. Und das schlimmste war, daß man es ihr nicht einmal verbieten konnte, wenn sie dann beim Abendbrot mit ehrfürchtiger Stimme erzählte:»Fräulein Jürgenpott hat gesagt É«

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nd ebenso war es in diesem Augenblick das
schlimmste, daß Frau Sophie ihr das unmögliche Verhalten nicht verbieten konnte - aus der Angst vor irgendeiner Rache - daß dieser Einspruch Anna nur noch bestimmter auf die Seite ihrer Feindin bringen würde.
»So!« sagte sie deshalb noch einmal, daß es durch die Stube pfiff, zuckte die Achseln und drehte sich um.

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nna stand beklommen und ratlos. »Was hab ich nur getan?« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.02.2006