02.02.2006
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Eines Tages schloß sie mitten im Üben den Klavierdeckel und sank schluchzend in den nächsten Sessel. Woher die Tränen kamen, wußte sie nicht; denn auf ihr Herannahen hatte sie nicht geachtet; sondern hatte nur den einen Takt hartnäckig wieder und wieder geübt. Wenn sie die Augen schloß, hörte sie doch, wie er klingen mußte! Sie versuchte noch einmal; nein - so nicht. Und plötzlich standen keine Noten mehr vor ihr auf dem Pult, sondern mit Flammenschrift die Gewißheit, daß sie nie in dem großen, unbegrenzten Raume, wo die Kunst wohnt, Einlaß bekommen würde. »Und dann hat es überhaupt keinen Sinn«, sagte sie noch einmal mit aller Strenge zu sich selbst, als hätte sie nun lange genug Geduld gehabt, »wenn ich nicht weiß, daß ich einmal so singen kann, daß die Menschen auf die Knie sinken und entweder leben wollen oder sterben - wenn das nicht sein wird, hat es überhaupt keinen Zweck.« Und sie faßte die Noten und warf sie auf den Ständer, als hätten sie zur Sühne auf ewig dort liegenzubleiben.
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Anna erhob sich an dem harten, grausam schönen Entschluß, der Musik nun ein vollkommenes Ende zu bereiten, da ihr die große Kunst versagt war und da sie der dringenden Forderung in sich auf irgendeine Weise folgen mußte: etwas im Leben ganz zu erfüllen.
»Wenn du es auf diesem Gebiete nicht fertig-
bringst, so wähle ein anderes«, sagte sie zu sich wie
eine Lehrerin, und weil jetzt große Strenge das einzige Mittel blieb, so beschloß sie, sich dem Haushalt zu widmen. Bei diesem Gedanken kamen die Tränen aufs neue. Denn sie fühlte das Furchtbare, Erdrückende: daß sie auf diesem Gebiete erst recht nicht das Ganze, Lebenswerte zu leisten vermochte. Bei der Musik hatte sie wenigstens den heiligen Willen und die vorwärts drängende Sehnsucht auf ihrer Seite; wenn sie aber die kleinen häuslichen Pflichten besorgte, die Mutter ihr auftrug - Blumen gießen oder im Salon Staub wischen - dann war ihr heiliger Wille und ihre vorwärtsdrängende Sehnsucht irgendwo anders, in weiter Ferne, und keineswegs zu ihrer Verfügung.
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Und Anna ging zu ihrer Mutter mit der Bitte, sie möchte ihr doch etwas Richtiges zu arbeiten geben.
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Die Mutter fühlte dies große, unbequeme Streben, das über Anna gekommen war; und weil sie nicht wußte, wie das zu verwirklichen wäre - es auch nicht wünschenswert fand - schien ihr jedes Versagen in den kleinen täglichen Pflichten willkommen, um zu zeigen, daß diese Aufgaben durchaus genügten.
Dadurch wurde Anna ihre kleine Tätigkeit und große Leere nicht lieber. Und jetzt ließ sie nicht ab, bat ihre Mutter, sie möchte ihr erlauben, die Milchwirtschaft und Geflügelzucht gründlich zu erlernen bei Fräulein Jürgenpott, der Wirtschafterin.
Frau Sophie fand es ganz unmöglich.
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Alle fürchteten sich vor Fräulein Jürgenpott. Keine der Mägde konnte ihr etwas recht machen. Sie riß ihnen den Wischlumpen aus der Hand, um selbst die Kellertreppe aufzunehmen. Hinterher heulte sie in ihrer Stube und klagte stundenlang, daß sie überangestrengt werde.
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Annas Bewunderung für diese Wirtschafterin rührte auch von den Gewitternächten her, früher, wenn die Eltern mal verreist waren. Wenn ihr Kinderfräulein sie weckte, ihr halb im Schlaf ein Mäntelchen über den Nachtrock zog und sie durch die langen dunklen Gänge führte, die plötzlich ganz voll standen von den Feuern der Blitze.
War das eine Erlösung, wenn man bei der Jürgenpott in der Gesindestube ankam, wo die Lampe brannte und sämtliche Mägde halb angezogen, mit kleinen, dünnen Zöpfen, in den Ecken hockten!
Alle zuckten sie zusammen, wenn es blitzte und gleich darauf der Donner wütend, mit Pfeifen in der Luft, über den Teich kam - nur Fräulein Jürgenpott stand aufrecht am Fenster und sagte, ob es irgendwo eingeschlagen hätte und wo das Gewitter hinzöge.
Alle fühlten sich geborgen bei Fräulein Jürgenpott, auch die Mägde, die tagsüber vor ihr zitterten. Und die kleine, zu fest eingehüllte Anna sah aus der Sofaecke zu ihr auf, wie sie am Fenster stand und über Donner und Blitze verfügte.
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Warum sollte Anna nicht bei Fräulein Jürgenpott den Haushalt lernen?
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»So«, meinte die Mutter - in einem Ton, der Anna darüber aufklärte; denn sie sah, wie der Ärger auf ihrem Antlitz auseinanderlief, wie sich ein Knäuel von Falten zwischen den Augen aufwickelte - all dieser Ärger der früheren Sonntagnachmittage, wenn Anna, statt bei ihr in der Wohnstube zu sitzen, plötzlich verschwand, um der Jürgenpott auf ihrem schwarzen Ledersofa Gesellschaft zu leisten. Und das schlimmste war, daß man es ihr nicht einmal verbieten konnte, wenn sie dann beim Abendbrot mit ehrfürchtiger Stimme erzählte:»Fräulein Jürgenpott hat gesagt É«
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schlimmste, daß Frau Sophie ihr das unmögliche Verhalten nicht verbieten konnte - aus der Angst vor irgendeiner Rache - daß dieser Einspruch Anna nur noch bestimmter auf die Seite ihrer Feindin bringen würde.
»So!« sagte sie deshalb noch einmal, daß es durch die Stube pfiff, zuckte die Achseln und drehte sich um.
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Artikel vom 02.02.2006