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Die Kirche war immer schon voll, wenn man hereinkam, denn diese war nicht die einzige Landstraße, die in sie hineinfloß, und wenn kein freier Sitz mehr zu sehen war, kam immer noch eine Landstraße hereingeströmt. Dann wurden diese breiten, steifen Sonntagskleider immer fester zusammengepreßt, daß in ihren Falten kein Platz mehr blieb für den alten Geruch von Müttern und Großmüttern, daß er heiß aufstieg von den Bänken bis unter die Kanzel, wo Pastor Spengemann stand und betete und zwischen den geschlossenen Augen strafend herunterschielte, weil so viele zu spät kamen.

Und Pastor Spengemann predigte über die Pfingstgeschichte. Weil es aber sehr lang dauern mußte - da die Bauern eine »langwielige« Predigt wollten und keine »kurzwielige«, nachdem sie zwei Stunden Weges und weiter herkamen, - deshalb stürzte er sich noch auf seinen Lieblingstext vom »Zorne Gottes«. Er schlug mit der Faust auf die Kanzel, damit jeder diesen Zorn Gottes vor sich bekam, denn jeder hatte ihn einmal gesehen, das wußte er. Den Männern von Holwiesen war er begegnet, wenn sie nachts aus der Wirtschaft kamen, hinter der Windmühle in den Ellern; dunkel und hart schlug er ihnen ins Gesicht mit seiner kühlen Hand, daß sie vor Schreck den Siek hinunterfielen und stöhnten. Die Mädchen von Remersloh hatten ihn gesehen, wenn sie den Kopf aus dem frischen Stroh hoben - hinter der nächsten Stiege war er dunkel hervorgekommen, mit zwei glühenden Augen, die sie androhten, daß sie sich fest an den Arm des Knechtes klammerten und um Hilfe flehten, wenn es doch schon längst zu spät war.
Karoline hatte ihn auch einmal gesehen, aber das wußte niemand, auch nicht der Pastor; und dennoch erinnerte er sie daran.
Das war, als sie ihr erstes Kind trug, in einer Nacht, da Nordkämper laut und roh vom Branntwein sie nicht in Ruhe lassen wollte; sie konnte sich nicht mehr wehren, aber als er schwer und gedankenlos auf sein Bett gesunken war, stand sie leise auf, zog ihr warmes Kleid an und band ein Tuch um, denn es war spät im Oktober, und sie ging hinaus in die dunkle, feuchtkalte Nacht. Wohin wußte sie nicht; vielleicht zu ihrem Bruder ins Moor, oder nach Hause; aber davor fürchtete sie sich.

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ine Nordkämper hätte jetzt lieber an Karl Stodiek gedacht; aber es half nichts; sie mußte sich wieder durch diese feuchte, kalte Nacht schleppen - sich und ihr Kind, denn so wollte es der Pastor. Und sie kam wieder den Hohlweg hinauf, wo das Laub unter den Füßen weich und tot liegenblieb, daß man ausglitschte. Und vor jedem Schritt stand der Nebel, schwer vom Sterbegeruch der Wiesen, daß er sich kaum aufrechthalten konnte. Da spürte sie einen scharfen Wind und dachte, daß sie nun bald die Höhe erreicht hätte und geradeaus gehen könnte. Der Nebel blieb ein wenig zurück, und sie erkannte die Tannen, vor denen sich das hohe, schiefe Gerüst der Totenglocke aufrichtete. Der Wind schob sie weiter; aber sie mußte einen Augenblick stehen bleiben, Atem zu holen. Da sah sie plötzlich etwas Dunkles, etwas viel Dunkleres als die Nacht, auf dem Weg liegen. Manchmal hob es sich und schien sich weiter zu wälzen; aber dann sank es wieder zusammen und blieb hocken. Line Nordkämper zitterte in ihrem müden, schweren Körper; das war ja die alte Großmutter Seving, die nicht sterben konnte. So hatte die all die Jahre neben ihrem Stuhl am Boden gehockt. Man wußte ja, daß man sie wiedersehen würde, irgendwo hocken mit ihrem verzerrten, verwesten Gesichte.
Line Nordkämper tat einen entschlossenen Schritt vorwärts und wollte an ihr vorbeigehen; aber da sah sie, daß es gar nicht die alte Frau war, sondern etwas ganz Ungeheures, das über den Weg lag und sie nicht vorbeiließ. Auf einmal streckte sich ein Arm nach den Tannen hin. Und da schlug die Totenglocke an - ganz leise - aber Line hatte es gehört.

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ie es weiter war, wußte sie nicht mehr, wie sie den glitschigen Hohlweg wieder hinunter kam und zurück nach Nordkämpers Hofe. Aber bis zu diesem letzten Entsetzen mußte sie seither jedesmal wieder gehen, wenn Pastor Spengemann vom Zorne Gottes redete.

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avon wurde sie sehr müde. Und die ganze Gemeinde wurde müde, jeder von seinem Zorne Gottes. Die hinter den dicken Säulen saßen, schliefen sicher und geborgen. Anfangs hatte der Küster sie der Reihe nach wach gestubst mit seinem Klingelbeutel. Nun nützte es nichts mehr, daß Pastor Spengemann immer noch auf die Kanzel schlug, während er schon längst bei der »Chnade« angelangt war, um seine Gemeinde mit einer freundlicheren Stimme zu entlassen É
Anna hatte ihren eignen Gedanken nachgesonnen, während sie in dem geschlossenen Kirchenstuhl saß, der den Patronen auf Brakenhorst zu eigen gehörte.
Es war wohl feige und unehrlich, daß sie mit zur Kirche ging, trotzdem ihr das alles nur noch eine leere Form schien, eine Erinnerung an den lieben Gott, der früher vielleicht einmal anwesend war im Brausen der Psalmen und in der Not der Gebete; und der es gewiß nicht zugelassen hätte, daß die Gemeinde schlief. Nun aber war er fort, und niemand konnte ihm mehr zutrauen, daß er je die Welt gemacht habe. Der liebe Gott war längst überflügelt von klugen wissenschaftlichen Systemen; es kam nur darauf an, das rechte auszuprobieren. Brigitte war für Schopenhauer, und »Die Welt als Wille und Vorstellung« war unter den Büchern, die sie Anna zum Abschied geschenkt hatte.

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a, Brigitte würde sie unehrlich schelten, weil sie hier saß und mitsang: O heiliger Geist, kehr bei uns ein (Vers 1-10 ließ Herr Pastor Spengemann singen). Aber es war ihr so wohl in dieser Kirche, die ihr früher stets ein Entzücken vom Himmel verursachte, wenn sie einmal mitfahren durfte. Besonders an Silvester beim Abendgottesdienst, wenn die Kerzen an den Säulen und Mauerwänden entlang so mühsam das dichte, dumpfige Dunkel fortschoben, die vielen Lichte - die man nicht zählen konnte, weil man den Kopf nicht umdrehen durfte - die alle flackrig und ungeduldig wurden, wenn die Predigt zu lang dauerte É

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nna stellte sich vor, was die Eltern sagen würden, wenn sie erklärte, sie könne sie nicht mehr zur Kirche begleiten, weil es gegen ihre Überzeugung sei; vor allem nicht zum heiligen Abendmahl; denn das wußten sie ja, welche Sünde es ist, ohne Glauben zum heiligen Abendmahl zu gehen. Mutter würde weinen oder vielleicht auch schelten, genau in dem Ton wie früher über den Puppenkoffer, und Vater würde rote Augen bekommen vor Zorn und schreckliche Dinge sagen, deren Sinn man nur aus der Stimme verstand, die alle zittern machte - wie damals, als sie mit Erli von Karoline kam. Und schließlich mußte sie doch wieder mitfahren oder wurde zu Hause gelassen mit jemaliger Wiederholung ihrer eignen, mißverstandenen Gründe. Das wäre beides gleich schrecklich.

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ie Länge der Pfingstpredigt reichte nicht aus, um über diese Fragen sich Klarheit zu verschaffen. Denn mit dem Abendmahl war es besonders zwiespältig. Da mußte man alles geradeso glauben, wie es im Katechismus steht, sie hätte ja doch den Gang zum Abendmahl in der Fastenwoche nicht missen können. Denn das hatte sie beibehalten von der Konfirmation: Vorher dies große Ausräumen der Seele. Dann arbeitete sie in ihrer Seele wie eine Putzfrau mit aufgekrempelten Ärmeln; alles mußte heraus, alles, was man bei den kleinen Reinemachen das Jahr über dort stehenläßt, weil sich der Staub sonst auf den Atem legen würde; all die großen Schränke, die für einen allein fast zu schwer sind, und die vielen Schubladen, in die man immer wieder was neues hineinsteckt, ohne das alte darunter geordnet zu haben. Das war eine Erschöpfung nach solchem Reinemachen!, weil man vor Scham ganz zittrige Gelenke bekam und feuchte Fingerspitzen, denn man denkt nie, daß es soweit mit einem kommen könnte. Doch gegen Abend, wenn alles geputzt ist, daß man den Duft der frischen Vorsätze in der Nase fühlt, dann durchwandert man noch einmal befriedigt die neue Seele und meint, daß nun diese angenehme Ordnung wohl ein Jahr halten könnte.


Neuntes Kapitel
Die einzig regelmäßige Tätigkeit, die Anna eine Arbeit fühlen ließ, war das Üben für die Gesangsstunde, zu der sie jede Woche in die Stadt fuhr. Die Lehrerin in der Pension hatte gesagt, bei ihrem Talent könne sie es weit bringen. Und an manchen Tagen fühlte Anna auch, daß ihre Stimme etwas fortgeschoben hatte von all den Zweifeln und Enttäuschungen, an deren Wand sich der Atem erschöpfte und die Töne sich dämpften. Wenn man jeden Tag ein Stück von diesen Zweifeln und Enttäuschungen zum Wanken brächte, dann müßte sich doch einmal die Wand öffnen in den großen, unbegrenzten Raum hinein, wo die Kunst wohnt. Dies aber geschah eben nur sehr sehr selten. Und jeder Tag, an dem es nicht geschah, bestärkte die Zweifel und Enttäuschungen.

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ei doch zufrieden«, sagte die Mutter, »du machst uns ja Freude mit deinen netten Liedern!« Solch eine Aufmunterung reizte Annas Gefühle erst recht zum Widerspruch. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.02.2006