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Nein«, sagte Karoline, sie sollte »man sitzen gehen«, und strich verlegen mit der Hand ein paar Brotkrumen von der gescheuerten Tischplatte; das wäre der Lehrer Stodiek gewesen aus Ebelinghausen.
Anna wußte, daß es der Mann war, den sie früher liebte und nicht heiraten durfte.
Und sie saß nun auf dem gleichen Stuhl, auf dem er vorhin Karoline gegenübergesessen hatte und gefragt, ob sie ihm treu geblieben sei und jetzt, wo ihr Vater und ihr Mann gestorben, ihn heiraten wolle. Und geradeso hatte Karoline ihr Jüngstes auf dem Schoß gehabt und ihm beschwichtend den kleinen eigensinnigen Rücken geklopft.
Anna fragte nach allem, nach den Kindern und dem Sterben von Nordkämper.

Es ist noch kein Jahr her«, sagte Karoline und schwieg. Und in die große niedere Bauernstube schlich wieder die langsame Stille, unter deren bedächtigem Schritt der weiße Sand auf dem Fußboden knirschte, und um deren Haupt die Fliegen summten.
»Es ist noch kein Jahr her«, hatte sie auch zu Karl Stodiek gesagt, und er wollte ihr Bedenkzeit geben bis zu den Ernteferien.
Anna sah Karoline an, mit großen traurigen Blicken, wie sie hilflos vor ihr saß - die große starke Karoline, die sie früher so sicher an der kleinen Hand geführt hatte.
Die Stille mit dem knirschenden Sand auf dem Fußboden und den summenden Fliegen unter der Decke wurde so unerträglich, daß Anna plötzlich aufstand und ihre Arme um den Hals der Bäuerin legte und weinte.
Karoline erschrak und wollte aus ihrem strengen Schicklichkeitsgefühl dem erwachsenen Mädchen die Arme lösen. Aber Annas Kopf lag fest auf ihrer Schulter; und sie weinte - weinte.
»Was hast du, Anna«, fragte Karoline.
»Ich weiß nicht - aber du sollst nicht traurig sein.«
Weiter sprachen sie nichts miteinander. Und doch war es wie ein Verstehen; wie ein sanftes Berühren im Dunkeln, wo es allein so bang und gespenstisch ist.
Anna stand der Bäuerin wieder gegenüber und sah sie an aus ihren fragenden Augen. Karoline war auch aufgestanden; denn das kleine Kind hatte es verübelt, daß die Mutter über dem großen Fräulein vergessen hatte, ihm den Rücken zu klopfen. Sie wiegte es beruhigend hin und her. Anna stand noch vor ihr, als wartete sie auf eine Antwort.
»Es hilft nichts«, sagte Karoline endlich mit ihrer einfachen klaren Stimme: »Durchbeißen - immer durchbeißen!«
Das klang hart und streng. Aber sie mußte doch ganz verstohlen mit dem Schürzenzipfel über die Augen fahren. Das kleine Kind auf ihrem Arm begehrte wieder auf.
Anna gab ihr die Hand zum Abschied. Denn sie fühlte, daß Karoline ihr alles gesagt hatte, was es zu sagen gab.

Pfingstsonnabend kam Erli. Der Onkel hatte ihn zuerst in sein Zimmer rufen lassen, wegen der Beschwerden, die über ihn eingelaufen waren. Es mußte sehr schlimm gewesen sein, denn sie kamen beide mit roten, ärgerlichen Köpfen zum Kaffee, jeder nach seiner Art. Vater zog mit sichtbarer Schmerzbetonung seine Gichtschulter in die Höhe, denn er war in einer mißlichen Lage: eigentlich hatte er vor, Erli für die nächste Zeit das Reiten ganz zu verbieten, aber solange er mit seiner Gicht zu tun hatte, konnte wenigstens Erli Anna manchmal begleiten. Erli sah vor sich hin und biß achtlos in die langen Kuchenstücke und merkte gar nicht, daß der Butterkuchen besonders dick mit Mandeln bestreut war, wie er es gern mochte.
Später ging er mit Anna über den Hof, die Hände in den Taschen, sehr hoch gehobenen Kopfes, damit die Leute nichts merkten, die eben junge Maienbäumchen vom Leiterwagen abluden, um Tore und Türen fürs Fest zu schmücken.
Im Park wurde er wieder nachdenklich. »Zu dumm«, murmelte er, und bei »dumm« schlug er mit dem Spazierstock den Kies, daß er fortspritzte.
»Was denn, Erli?« fragte Anna vorsichtig.
»Ach was! Ich kann solche Klatschereien nicht leiden! Diese Leute haben gar kein Anstandsgefühl, vom Religionslehrer aufwärts bis zum Direktor. Ich bin noch immer mitgekommen; was kann ich dafür, wenn ich kein Esel bin und nicht den ganzen Tag ochsen muß. Onkel meint es ja herzlich gut mit mir, aber diese Wirtschaft wegen der Reitstiefel ist doch übertrieben. Na, mir istÕs ja gleich - ich kann auch in Gamaschen reiten.«

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ie saßen auf einer Bank vor dem runden Steintisch unter den Kastanien. Erli hatte sich eine Zigarette angezündet. Und er redete auf die graue Tischplatte ein. Plötzlich merkte er, daß Anna sich mit keinem Wort beteiligte. Das war ungemütlich und verwirrend. Sein eiferblankes Knabenantlitz beschlug.
»Sag, Anna, findest duÕs schlimm?«
Anna besann sich und sah auch auf die Steinplatte.
»Ja, ich finde es schlimm.«
»Aber Anna!« reckte er sich wieder hoch. Sie unterbrach ihn: »Du weißt ganz gut, Erli, warum. Daß es die Reitstiefel und das Tennisspielen und all diese kleinen Sachen gar nicht sind.«
Einen Augenblick schwankte er, ob er sich wieder zu Annas Richtung in Gegensatz stellen sollte, zu dieser ernsthaften Tüchtigkeit, die sich mit den eleganten Sports, wie er sie liebte, nicht zu vertragen schien. Aber er ließ plötzlich die überlegenen Mundwinkel rutschen, und seine weichen Züge hatten einen rührenden, erschrockenen Ausdruck.
»Sag, Anna, glaubst du wirklich, daß ich leichtsinnig bin und daß nichts aus mir wird?«
Sie fühlte eine große Verantwortung und Gefahr, beides, ihn über sich zu beunruhigen oder zu trösten.
»Ich glaube wohl, daß du anfangen müßtest, dein Sein und Werden ernster zu nehmen.«
Sie hielt ihn also für zu kindlich; das ärgerte ihn, und er sagte wieder: »Ach was!« und schlug mit dem Spazierstock in den Kies, aber gleich darauf sah er sie nochmal hilflos an. »Wenn ich nur wüßte, was ich werden könnte! Aber - du darfst es niemand weiter sagen, Anna, eigentlich ist mir alle Arbeit zuwider, ich habe zu nichts Lust - außer zum Reiten und Tennisspielen.«

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as wußte Anna. Er ließ seinen Kopf ganz tief auf die übergeschlagenen Knie sinken, und Anna fühlte, daß er irgendeine Hilfe oder Aufmunterung von ihr erwartete.
»Erli, du mußt was Ordentliches werden, und du kannst es auch«, sagte sie ruhig und einfach.
Da fühlte er wieder, daß sie ihn nett fand, und war zufrieden.
Er stand auf, als hätte er nun nichts mehr mit diesem ernsthaften, steinernen Tisch zu tun, und sagte: »Komm, wir wollen durch die Ställe gehen.«
Dann fing er an, für die Sommerferien zu planen. »Denk mal, famos, der Walter kommt dann zu uns.« Er strahlte vor Stolz, denn Walter Steinbeck, ein Neffe seines verstorbenen Vaters, war bei den Düsseldorfer Ulanen und hatte ihm seine Freundschaft sogar als Leutnant bewahrt.

D
ann wollten sie aber zusammen reiten! Und der Gedanke an Walter verscheuchte die letzten Spuren des Kleinmuts, und er behandelte Anna wieder mit jener Überlegenheit der größeren Eleganz und Gewandtheit, die ihr das Kränkendste war.


Achtes Kapitel
Pfingstsonntag fuhren die Eltern mit Anna zur Kirche nach Harvelinghausen. Es war ein silbriger, blauer Frühsommertag. Hoch und hell zogen die weißen Wolken über dem schweren, niedern Lande.
Der Weg ging erst durch Felder und Gehölze der Landstraße zu. Schon von weitem sah man, wie sie sich unter den blühenden Apfelbäumen schwärzlich krümmte, von einer unaufhörlichen Bewegung, als wollte diese ganze Landstraße in die Kirche nach Harvelinghausen. Wenn man erst dort zwischen den Reihen der Bauern angekommen war, lief der Wagen wie von selbst, weil die ganze Landstraße mitschob, in einer Richtung.
Jeden Augenblick mußte man einen Gruß erwidern. Anna entdeckte Karoline mit ihren beiden Ältesten an der Hand. Sie hielt den Kopf gesenkt und dachte an Karl Stodiek. Und all die andern Frauen hielten auch den Kopf gesenkt, als dächten sie auch an ihn. Aber die sahen nur auf ihre schwarzen Samtschuhe, wo sie am wenigsten staubig würden.

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iele alte Frauen trugen noch ihre Tracht; denen zog das Gewicht des faltigen, schwarzen Stoffes die Schultern tiefer, und die schwere Bernsteinkette auf der weißen abstehenden Halskrause. Manchen drückte die schwarze Haubenschneppe die Stirn zu weit herunter, und der zahnlose Kiefer schob die Lippen zu weit hinauf, so daß vom Gesicht dazwischen nichts mehr übrigblieb. Man sah von ihnen eigentlich nur eine große knochige Hand, die das Gesangbuch fest gegen die schwarze Schürze preßte. Manche hatten auch einen Schirm unter die heiße Achsel geklemmt.

D
ie Männer schritten an der andern Seite die Bäume entlang. Sie gingen nicht, wie sie auf ihrem Acker zu gehen gewohnt waren, mit dem wohligen Sicheinsenken in den scholligen Grund, sondern wie ihr knapper Sonntagsanzug mit den altmodischen, grünlichschimmernden Schößen sie gehen ließ, unbequem und nachdenklich, gleichsam jeden Schritt besonders.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 31.01.2006