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Zum ersten Male fühlte sie in ihrem sehnsüchtigen Herzen, wie fremd ihr die Menschen hier doch waren, auch die, die sie lieb hatte. Von den Eltern wußte sie es wohl schon lange, aber: »das muß so sein«, dachte sie, wie bei allem, was ihr als Kind unverständlich war.
Auf wen hatte sie sich nicht alles gefreut beim Nachhausekommen! Auf den Gärtner, der sie doch halb erzogen hatte, wenn sie früher zwischen seinen Kohlköpfen spielte, während er den Wagen für den Markt einschichtete. Auf Kutscher Heinrich hatte sie sich gefreut und auf Luise Pahlsbröker und Karoline. Aber da war niemand, mit dem sie irgend reden konnte, was ihr jetzt am Herzen lag. All die vielen Fragen, die man allein nicht ausdenken kann, über die Welt und ihren Zweck, und welchen Sinn man seinem Leben wohl geben sollte.

Ach, Brigitte ging jetzt ihrem Studium entgegen, und ihre Gaben und Kräfte wurden noch gesteigert und ausgenutzt. Sie aber mußte ganz allein hier sein, ein wenig im Haushalt helfen und abends bei den Eltern sitzen mit einer Handarbeit; und niemand hatte etwas davon, daß sie begabt war, wie in der Pension die Lehrerinnen behaupteten. So würde es nun weitergehen, bis sie einmal heiratete oder einen Beruf hatte, wie Brigitte es für sie wünschte, und bis dahin mochte es lange dauern.
Anna sah noch immer hinunter auf den Teich und die Tannen. Plötzlich ließ sie sich von der Fensterbank herabgleiten und öffnete vorsichtig ihre Tür. Draußen auf dem Gang waren schon alle Lichter gelöscht; nur in den Fensternischen stand der schüchterne Widerschein des hellen Nachthimmels.
Sie durchschritt den Seitenflügel, um nicht am Schlafzimmer der Eltern vorüber zu müssen, bis vor an den Turm, und stieg die viereckige Wendeltreppe abwärts. Das alte Eichenholz knarrte unter ihren langsamen Schritten; aber lauter fauchten die Eulen über ihr im Uhrturm.

U
nten schob sie den Riegel von der Tür und trat hinaus. Flach und unbekannt hob sich die alte Linde von den Parkbäumen; sie hatte noch Lebenskraft genug, sich hoch und aufrecht zu halten, trotz aller alten Schuld, die ihr zugesprochen wurde; und wenn auch sieben Ketten sie zusammenhalten mußten und sie jedes Jahr ein paar trockene Zweige hängen ließ.
Anna ging über die gewölbte Lattenbrücke und blieb jenseits des Teiches vor den Weiden stehen, deren ruhelose weiche Wedel der zärtliche Nachtwind liebte. Dahinter fiel ein heller Schein aus den Wolken zwischen den Goldregenblüten in den Teich. Der Mond war nicht zu sehen, aber die Wolken, die über ihm herzogen, ließen hin und wieder sein Licht durchsickern.
Anna setzte sich auf eine der Bänke vor der Mooshütte und horchte auf den feinstimmigen, nächtigen Frühling. Sie atmete wissend den Duft ein von hellen Blüten, der über die Rasen kam, und den kräftigen Geruch des schweren dunklen Bodens.
Da fühlte sie auf einmal wieder, daß sie diesem schweren dunklen Boden angehörte wie all diese ernsten Bäume; sie mußte auch etwas in sich haben von der schlichten Schönheit dieses Landes, die ihre Seele von Kind auf entzückt hatte.

E
s kam eine große Begierde über sie nach allem, was ihr besonders wert war. Am liebsten wäre sie noch aus dem Park hinausgelaufen, zur alten Mühle und an den Bach in der Fohlenweide. Aber die Mauer war geschlossen.
Drängenden Schrittes ging sie über den Hof; als hätte sie vergessen, daß es spät in der Nacht sein mußte und daß sie heimlich entschlüpft war.
Vor dem Turm kreuzte der Schein einer Laterne ihren Weg. Sie blieb stehen. Die schweren schlürfenden Holzschuhe kannte sie. Es war der »olle Maak«, der Nachtwächter. »Kümm hie man jümme, Cito!« rief er seinem Hund, der zu kläffen anfing, streckte die Laterne vor und hob den Arm über die Augen.
Anna überkam ein wohliges Behagen bei seinem Anblick - wie früher als Kind, wenn sein Lichtstreifen langsam über Wand und Decke der dunklen Schlafstube zog; dann war ihr, als könnte nun die ganze Welt ruhig einschlummern - wenn er nur wach blieb und ab und zu die Laterne vor sich in die Höhe hielt.

N
u kiek ens! Anna!« sagte er heiser und gab ihr die große harte Hand hin. »So late noch togange?« fragte er mit vorwurfsvoll erhobenem Finger.
»Ach, Maak, wie lange war ich nicht zu Hause! Es ist so schön heute abend.«
»Djau, dat wull ick nich säggen«, hustete er, »aber nu maket sei man buzze na buaben!«
Und er leuchtete ihr bis in die Tür. Dann ging sie langsam die Treppe wieder hinauf und tastete sich durch den finstern Gang.

I
n ihrer Stube schob sie die Sachen beiseite, die sie ausgepackt hatte, ohne der Erinnerungen zu achten, die ihr vorhin die Einsamkeit schwer machten.
Sie ging schnell zu Bett und lag noch lange wach; denn die Liebe zu ihrer schweren dunklen Heimat, an die sie sich als Kind mit aller sehnsüchtigen Zärtlichkeit geschmiegt hatte, kam wieder über sie - gewachsen und getieft zu einer jungfräulichen Leidenschaft.

Siebtes Kapitel
Am nächsten Nachmittage ging Anna über den neuen Bahndamm in der Wiese durch die jungen Saatfelder Pahlsbrökers Hofe zu. Man sah schon von weitem das große schwarz-weiße Fachwerkhaus aus einem kuppligen Eichengehölz vorlugen. Daneben liefen Felderstreifen den Kamp hinauf in den blauen Himmel; gelber Raps, leuchtend hell, neben braunem Kartoffelland und grünem Roggen.
Anna durchschritt die hohe Deel, wo zu beiden Seiten Ketten rasselten und die Kühe neugierig die Köpfe über ihre Krippen streckten. Pahlsbröker stand heiß von der Arbeit an der Pumpe und schlürfte Wasser aus der hohlen Hand. Mit einem freudigen Schubs schleuderte er die Tropfen von den nassen Fingern, wischte sie an der Hose herunter und begrüßte Anna. Er sah sie erst lange an mit seinen schlauen, halb zugekniffenen Augen; Anna wies auf seine Forke, die er in den frischen Klee geworfen hatte, und sagte: »Ich will euch aber nicht stören, ihr seid bei der Arbeit.«
»Och«, meinte er, »de blievt mi jo, de löpt mi nich wech.« Dann zeigte er auf die lackierten, städtischen Möbel: »Sei kennt dat hier woll balde nich wieder!« und sah sie, ihres Lobes gewärtig, an, als hätte er ihr eine besondere Freude durch diese Neuerung verursacht.
»Wo habt ihr denn die alten, geschnitzten Eichenschränke gelassen?« fragte sie.
Och, die hätten da lange genug gestanden, die wären eingetauscht; »dat is nu doch bedeutend hübscher auf diese Art und Weise«, meinte er. Dann wollte er wissen, ob Anna nun für immer zu Hause bliebe. Luise wäre schon Ostern aus der »Penkschon« wiedergekommen, in einem Jahr hätte sie genug bei Frau Pastor in Bielefeld gelernt.

L
uise arbeitete draußen im Garten. Sie hielt ihren blonden Kopf verlegen zur Seite und antwortete nur ganz leise auf Annas Fragen und sagte nicht mehr »du« zur ihr. Pahlsbröker nötigte Anna herein, damit er ihr die neuen Stuben zeigte. Zum Glück war die große getäfelte mit dem breiten, eisernen Ofen geblieben. Aber es gab nun eine beste mit rotem Samtsofa und polierten Möbeln. Pahlsbröker sah Anna stumm und befriedigt von der Seite an, ob sie es auch schön fände. Er zeigte das Klavier von Gebrüder Knaake in Münster; Lowise hätte das Klavier gelernt in der Penkschon, und er winkte mit seinen großen Fingern: »Komm, Lowise, spiel mal einen.« Und es half Luise nichts, daß sie ganz rot und unbeweglich an der Kommode stehenblieb, sie mußte »einen« spielen; und wieder sah Pahlsbröker Anna von der Seite an, mit gefalteten Händen, ob sie es auch schön fände.
Anna verabschiedete sich enttäuscht; das liebe, vornehme Bauernhaus von früher! Sie ging in Gedanken den gleichen Weg, den sie als Kind immer genommen hatten, wenn sie schon mal bei Pahlsbrökers waren: den Patt an der Waldhecke abwärts durch den Siek; da lag unweit Karolinens Hof.

Anna hatte sie nicht gesehen seit dem Tode ihres Mannes. Sie wußte nur, daß Karoline es nun leichter hatte, denn für den Hof mußte sie von jeher sorgen, weil er trank und alles verkommen ließ. Niemand hätte es gemerkt; denn bei Karoline sah es immer am saubersten aus.

A
ls Anna durch den Zaun kam, begegnete sie einem schmalen Mann, der mit feierlicher Bewegung den Hut abnahm und mit sanfter Stimme guten Tag wünschte. Er schien von Karoline zu kommen; hinterm Fenster zwängten die beiden Jungens ihre runden Flachsköpfe zwischen Fuchsien und Blutstropfen ganz dicht an die kleinen viereckigen Fensterscheiben und sahen ihm neugierig nach. Die Mutter blickte gedankenvoll über sie hinweg.
Sie schrak leise zusammen, als Anna eintrat; die Jungens schlüpften aus ihren Holzschuhen und entwischten auf Strümpfen durch die Tür.
Karoline rückte ein wenig an den Stühlen herum, als müßte sie erst eine Beunruhigung forträumen. Dann sah sie Anna forschend an aus ihren tiefliegenden, leidvollen Augen.
Ob sie nicht störe, fragte Anna, sie hätte wohl eben Besuch gehabt.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.01.2006