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Wilfried Henze
verzeiht Täter

Neuanfang nach der Explosion in Höxter

Von Wolfgang Braun
Höxter (WB). Am 19. September 2005 sprengte der Rentner Günther Hartmann sein Haus im Herzen der Höxteraner Altstadt in die Luft. Neben ihm kamen noch zwei weitere Menschen dabei ums Leben. Das Kapitalverbrechen hatte zudem die berufliche Existenz des Galeristen und Antiquars Wilfried Henze (60) vernichtet. Aber Henze hat gelernt, mit diesem fürchterlichen Verlust zu leben. Und: Er hat dem Täter verziehen.

Auf Wesergrafiken spezialisiert hatte sich Henze mit seiner Kunsthandlung, die er in den von Hartmann gemieteten Räumen seit sieben Jahren betrieb. Es war die einzige in ihrer Art in einem weiteren Umkreis. »Alles habe ich verloren: meinen unwiederbringlichen Warenbestand und meine Kundenkartei«, stellt der ehemalige Buchhändler mit Trauer, aber ohne einen Anflug von Bitterkeit fest.
Seine vom Vater geerbte Buchhandlung hatte er 1998 an die aus Hannover stammenden Buchhändler Almut Brenner und Olaf Lindenburger verkauft. Das Haus hatte er aber behalten. Unmittelbar neben dem von der die Altstadt erschütternden Explosion in Schutt und Asche gelegenen Gebäude hatte es ganz erhebliche Schäden davon getragen. Die Renovierung wird noch einige Monate in Anspruch nehmen. Die neuen Besitzer betreiben mittlerweile die Buchhandlung Henze in einem Ausweichquartier weiter.
Für Henze war der Verlust um so schmerzlicher als er etwa 35 Jahre auch als Sammler auf die Einrichtung seiner Galerie hingearbeitet hatte: »Als ich die Buchhandlung verkauft hatte, habe ich mein Hobby zu meinem Beruf machen können.« Zudem: Henze, der seine Heimatstadt und deren Geschichte kennt wie kaum ein zweiter, ist Stadtheimatpfleger. Seine gesamte Präsenzbibliothek fiel den Flammen zum Opfer.
Wieder »Boden unter die Füße«, wie er selbst sagt, bekam er aber erst, als er lernte, das anzunehmen und im Innersten zu akzeptieren, was ihm und seiner Frau Christine widerfahren war. Sie saßen in ihrer Wohnung unweit des Explosionsortes am Frühstückstisch, als auch dieses Haus erschüttert wurde, die Scheiben zur Terrasse zersplitterten und die Trümmer bis zu ihnen flogen.
Mit Dankbarkeit denkt er daran zurück, wie sich Notfallseelsorger in Höxter auf dem Markt ihrer in den ersten Stunde nach der Katastrophe annahmen. Auch in den Tagen danach suchte er psychologische Hilfe. »Im Grunde war meine Situation mit der von den Menschen vergleichbar, für die sich von jetzt auf gleich etwa durch einen Herzinfarkt, Schlaganfall, Unfall oder Tod eines Angehörigen das Leben einschneidend verändert«, blickt er zurück. »Der grundlegende und entscheidende Schritt, die Veränderung verarbeiten zu können, war zu akzeptieren, dass die Zerstörung meiner beruflichen Existenz zu meinem Schicksal gehört.«
Im Hintergrund der Tat bei der Hartmann sich und das Haus, das ihm und seinen Bruder gehörte, in die Luft sprengte, standen Erbschaftsstreitereien. In den Beratungsgesprächen, die Henze wahrnahm, ging es auch darum, dass ihm die Last von der Seele genommen wurde, er hätte die Katastrophe verhindern können. Zum anderen lernte er Schritt für Schritt wieder, sich freuen zu können. Denn: »Freude gibt unserer Seele Kraft.« Anlässe dazu waren etwa die Baufortschritte bei der Restaurierung des Hauses, in dem die Buchhandlung, aber auch Büroräume eines Finanzdienstleisters untergebracht sind.
Ganz entscheidend war für Henze auch, dass er bereit war, Hilfe anzunehmen. »Das ist nicht so einfach für einen, der sich immer in der Position der Stärke befand.« Zu den vielen positiven Erfahrung gehörte beispielsweise, dass der Herforder Künstler Wolfgang Heinrich, der die Bombennächte von Berlin überlebt hatte, ihm die Vervielfältigungsrechte an einem Höxter-Aquarell mit der Bemerkung schenkte: »Der Baustein für einen neuen Anfang.« Später will Henze, den die Sanierung seines Hauses derzeit noch sehr in Anspruch nimmt, wieder ein Antiquariat einrichten.
Sein Glaube aber gab Wilfried Henze die Kraft, den wohl wichtigsten Schritt zu wagen, um die Katastrophe und deren Folgen verarbeiten zu können: »Ich habe Günther Hartmann verziehen, habe mit ihm meinen Frieden gemacht. Wäre das nicht der Fall, dann lebte ich wie mit einer offenen Wunde.«
Er geht hin und wieder zum Familiengrab der Hartmanns, wo auch Günther Hartmann mit einem christlichen Begräbnis bestattet wurde, um für die Seele dieses Menschen zu beten: »Es gibt einen Gott, der über ihn richtet. Was muss in diesem Menschen vorgegangen sein, dass er beschließt, sich zu töten und billigend den Tod vieler anderer in Kauf zu nehmen.«

Artikel vom 28.01.2006