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Das »Kleine Hufeisen«-Abzeichen
macht Behinderten sehr viel Mut

Therapeutisches Reiten schenkt 90 Menschen am Wittekindshof Lebensfreude

Von Susanne Kappmeier
Bad Oeynhausen (WB). Eine alte chinesische Weisheit sagt: »Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt.« Für viele erfolgreiche Turnierreiter hat ihre Reise auf den Stufen des sportlichen Erfolgs einst mit der Prüfung zum »Kleinen Hufeisen« begonnen. Dieses leichteste aller Abzeichen im Reitsport bescheinigt seinem Besitzer erste Kenntnisse im Reiten und beim Umgang mit dem Pferd. »Peanuts« für die einen. Ein gewaltiger erster Schritt - und ein Mutmacher - für die anderen.

Zum ersten Mal legten jetzt vier Reiterinnen und Reiter des Therapeutischen Reitens Wittekindshof in Bad Oeynhausen erfolgreich die Prüfung zum »Kleinen Hufeisen« ab. Re-becca Thees, Stefanie Rau, Imke Döring und Kai Thiele trainierten hart, um am Ende ihr großes Ziel zu erreichen und Urkunde sowie Abzeichen in Empfang zu nehmen.
Was ihre Betreuer am meisten erstaunte: Alle vier büffelten trotz ihrer Lernbehinderungen mit Begeisterung die Theorie. »Mir fällt das Lernen eben schwerer als anderen, aber wenn man es mir dreimal erklärt, komme ich auch dahinter«, sagt die 28-jährige Rebecca Thees, die mit ihren Eltern in Bünde gelebt hat und nun als Landschaftsgärtnerin im Wittekindshof arbeitet.
Als Kind litt Rebecca unter Störungen des Gleichgewichts. Sie hörte auf den Rat der Ärzte und begann zuerst mit dem Voltigieren in Bethel und dann mit dem Reitsport im Reitverein Bünde. Dort entdeckte sie ihre Liebe zu den Pferden und ihr Talent, mit ihnen umzugehen.
Ebenso wie ihre Mitstreiter vom Wittekindshof wuchs Rebecca Thees für das begehrte Abzeichen über sich hinaus. Sie lernte, alle Einzelteile einer Trense zu benennen, weiß über die komplizierte Anatomie eines Pferdes ebenso Bescheid wie über die richtige Fütterung. Weit über die Anforderungen des »Kleinen Hufeisens« hinaus, mauserte sich die junge Frau zur Pferdeexpertin schlechthin. Für ihren besonderen Einsatz erntete sie nicht nur große eigene Zufriedenheit und mehr Selbstvertrauen, sondern sogar schon sportlichen Erfolg. Bei einem Special Olympics-Turnier in Münster belegte sie den dritten Platz. Mit diesem Erfolg machte sie auch den anderen Pferdefreunden des Wittekindshofes Mut - und wurde für viele von ihnen zum Vorbild.
Die Diakonische Stiftung Wittekindshof bietet für ihre Bewohner mit geistiger oder mehrfacher Behinderung seit Sommer 2001 Heilpädagogisches Reiten und Voltigieren in der Reitanlage Lohoff in Volmerdingsen an. Rund 90 Kinder, Jugendliche und Erwachsene bis ins Rentenalter hinein, nehmen einmal wöchentlich daran teil - angeleitet von den beiden Reitpädagogen Sylvia Niemeier und Michael Rahmöller. Viele kommen auch aus dem Kreis Herford - aus dem Wohnbereich Ulenburg, von denen einige bald auch in die neuen Wohnhäuser nach Bünde, Herford und Enger umziehen werden.
Nur eine kleine Gruppe lernt das selbständige Reiten - wie die vier Absolventen des »Kleinen Hufeisens«. Für sie ist die Teilnahme an Turnieren oder am jährlich stattfindenden Wittekindshofer Reitertag ein besonderer Höhepunkt. Da die Turniere nach den Regeln von Special Olympics für Menschen mit geistigen Behinderungen ausgetragen werden, können auch Teilnehmer starten, die nur an der Longe oder geführt reiten können.
Beim Therapeutischen Reiten steht fast immer die Beziehung zum Pferd im Mittelpunkt. Streicheln und Putzen, mit Möhren verwöhnen oder einfach mit dem Tier kuscheln und reden - das ist für einige Pferdefreunde mindestens genauso wichtig wie die Zeit auf dem Rücken der Tiere. Sie erleben Vertrauen und Getragen werden in einer bisher unbekannten Intensität. Die einen können sich so entspannen und finden innerlich Ruhe. Andere werden durch die Bewegung des Pferdes selbst in Trab gebracht und sind freiwillig zu sportlicher Aktivität bereit, die sie sonst am liebsten ganz umgehen.
All diese positiven Folgen des Therapeutischen Reitenssind bei jungen wie bei älteren Menschen zu beobachten. »Manchmal gibt es da erstaunliche Entwicklungen«, wissen Sylvia Niemeier und Michael Rahmöller. Bei den Pferden könnten die Männer und Frauen Gefühle zum Ausdruck bringen, die sie sonst niemals zeigen würden.
In den Stunden am Stall fühlen sich Senioren, die selbst auf einem Bauernhof groß geworden sind, in ihre Kinderzeit zurückversetzt. Für sie weckt schon der Stallgeruch, frisches Heu und Stroh Erinnerungen an eine Zeit, die ihr Leben geprägt hat, heute aber nicht mehr zum Alltag zählt.
Zu Beginn des Reitprogramms für Senioren hegten Sylvia Niemeier und Michael Rahmöller indes einige Skepsis, ob das Therapeutische Reiten mit Menschen, die seit mehr als 20 oder 30 Jahren in der Stiftung leben und für die es bisher wenig Bewegungsangebote gab, ganz reibungslos funktionieren würde. Die Bedenken erwiesen sich jedoch als überflüssig. So musste eine 63-Jährige anfangs zwar über ihren Schatten springen, um die Scheu vor den großen Tieren zu überwinden, doch dann gab es für sie nichts Größeres, als das Pferd zu umarmen. Große Angst hatte sie jedoch vor dem Reiten, vor allem vor dem Aufsteigen von der ein Meter hohen Rampe. Der Reiz, »ihr« Pferd zu reiten, war jedoch so groß, dass sie es immer wieder versuchte. Der Mut hat sich gelohnt. Seit zwei Jahren reitet die Frau voller Stolz im Schritt auf ihrem Pferd.
Eine ihrer Mitbewohnerinnen war jahrzehntelang zu keiner sportlichen Betätigung zu bewegen. Bis die Pferde ins Spiel kamen. Ein Pferd begegnet jedem Menschen gleich - egal, ob er behindert ist oder nicht. Verhaltensweisen, die andere Menschen abstoßend oder bemitleidenswert finden, sind einem Pferd egal. Es erwartet soziale Kontakte zum Menschen und sucht sie durch Anschnuppern, Stupsen oder Blickkontakt. Für diese faszinierende Begegnung nimmt die einst so bequeme Wittekindshof-Bewohnerin so einiges auf sich: Trotz starken Übergewichts begibt sie sich auf einen drei Kilometer langen Fußweg zur Reithalle, wenn sie glaubt, »ihr« Pferd sei krank. Dann stürmt sie ohne ein Wort an den Reitpädagogen vorbei und spricht mit ihrem Pferd.
Sylvia Niemeier und Michael Rahmöller haben ihren Weg gefunden, den Alltag für Menschen mit Behinderungen so zu gestalten, dass er nicht eintönig ist, sondern Höhepunkte in der Routine und die Möglichkeit zum Lernen bis ins hohe Alter bietet. Sylvia Niemeier ist überzeugt: »Die Pferde sind aus dem Leben der Reiter des Wittekindshofes nicht mehr wegzudenken!«

Artikel vom 28.01.2006