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80 Mal »Kinder« auf neun Seiten

SPD-Konzept spricht Familien »höhere gesellschaftliche Legitimität« zu

Von Joachim Schucht
Mainz (dpa). Deutschlands oberster Katholik zeigte sich angetan. Mit positivem Interesse habe er das ganze Papier gelesen, erzählte Kardinal Karl Lehmann beim Kamingespräch mit dem SPD-Vorstand in Mainz.

An den roten Thesen fand der konservative Kirchenführer nicht viel auszusetzen. Für sozialdemokratische Verhältnisse nicht nur in Tonart, sondern auch im Inhalt ungewöhnlich ist, was Parteichef Matthias Platzeck gestern als Botschaft verkündete.
»Arbeit, Arbeit, Arbeit« so lautete bislang meist die oberste Leitlinie von SPD-Programmen. Die neue Kardinalsfrage heißt jetzt: »Kinder, Kinder, Kinder«. Auf knapp neun Seiten ist in dem Konzept nicht weniger als 80 Mal von Kindern die Rede. Garniert mit Vorschlägen, wie die SPD die leise aussterbende deutsche Bevölkerung wieder zur kräftigen Nachwuchsproduktion animieren will.
Zumindest gewöhnungsbedürftig für viele Genossen ist, was die Verfasser als neues SPD-Familienbild propagieren. Stellenweise liest sich der Text, wie aus einem katholischem Lehrwerk entnommen. »Eine Familie zu gründen, Kinder zu bekommen und später dann auch Enkel - das ist und bleibt für die meisten Menschen die entscheidende Grundlage für Lebenszufriedenheit«, heißt es da.
Festgeschrieben wird der absolute Vorrang von Familien mit Kindern vor anderen Lebensformen. Ihre Anliegen hätten eine »höhere gesellschaftliche Legitimität«. Mit solchen Ansichten nähern sich die Sozialdemokraten vorsichtig den Thesen des konservativen Vordenkers Udo Di Fabio an. Nach Überzeugung des Bundesrichters kann ein gutes Leben eigentlich nur in einer »mit Kindern gesegneten Familie« geführt werden.
Genau zwei Monate nach Übernahme des SPD-Vorsitzes hat der neue Parteichef mit der in Mainz verabschiedeten Linie erstmals erkennen lassen, wohin mit ihm die Reise gehen soll. Für die Sozialdemokraten bedeutet der eingeleitete programmatische Wechsel den endgültigen Abschied von der 68er-Ideologie. Nachdem die Union bereits vor einer Woche in Mainz daran gegangen ist, den Sozialdemokraten ihr ureigenstes Thema, die soziale Gerechtigkeit, streitig zu machen, dreht die neue SPD- Führung den Spieß nun um.
Auch von der Parteilinken kam kaum Widerspruch gegen Platzecks neue Positionierung. Einstimmig wurde das Konzept beschlossen. Auch Zögernde in der Parteiführung konnte Platzeck für seine Neuausrichtung gewinnen. Schon in den 70er Jahren schauten die deutschen Sozialdemokraten gerne auf das »Schwedische Modell«. Dies soll sich jetzt unter dem Brandt-Nachfolger Platzeck wiederholen - allerdings unter völlig veränderten Bedingungen. Die Vorbilder Schweden und Finnland stehen heute für Länder, die erfolgreich den Umbau ihrer traditionellen Sicherungs- und Versorgungssysteme geschafft haben.

Artikel vom 17.01.2006