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Ljudmila Alexejewa

»Die Staatsmacht schränkt die
politischen
Freiheiten ein«

Leitartikel
Merkel bei Putin

Diplomatie statt Kumpanei


Von Reinhard Brockmann
Innerhalb von 72 Stunden hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die volle Breite ihres außenpolitischen Engagements abgesteckt.
»Die kann es nicht«, dieser pfauenhafte, abstoßende, auf jeden Fall frauenfeindliche Ausfall der Männerriege vor ihr im Amt wurde nie konzentrierter widerlegt als in diesen drei Tagen.
Mit einem Vorhinweis auf das Thema Guantánamo (»nicht auf Dauer«) setzte sich Merkel mit US-Präsident George W. Bush ins Benehmen. Mit dem fast provokativen Kontakt zu - sagen wir - »regierungsfernen« Gruppen in Moskau zeigte sie Kreml-Chef Wladimir Putin, wie das wiedervereinigte Deutschland denkt und fühlt. Fast erinnerte der Kontakt mit den Helsinki-Aktivisten an frühere Zeiten, als West-Politiker auf Ostblock-Besuch den KP-Chefs Breschnew, Andropow und anfangs auch Gorbatschow stets diplomatisch diskret eine Liste mit bitte zu verschonenden Dissidenten zusteckten.
Gulag und Solschenizyn waren früher, heute gibt es lediglich Gazprom und Chodorkowsky. Das ist sicherlich nicht das Gleiche, aber eines weckt ungute Erinnerungen an das andere.
Merkels Gespräche mit Vertretern der russischen Zivilgesellschaft dürften normalerweise nichts Besonderes sein. Dass Schröder so etwas selten in den Sinn kam und dass überhaupt andere Parteien und Menschenrechtsgruppen diese Form der symbolischen Aufwertung benötigen, spricht für sich. Merkel ging sogar so weit, die Bürgerrechtler zu ermuntern, in ihrem Engagement fortzufahren.
Die neue Bundeskanzlerin ließ durchaus Distanz zu Putin erkennen - kühl, aber für Moskauer Verhältnisse nicht wirklich frostig. Dennoch kam sie dem Kreml-Herrn in der Sache nah.
Es braucht also keine Männerfreundschaft, Saunagänge und Schlittenfahrten, um Putin etwas abzuringen. Allein die Verständigung auf eine enge Abstimmung gegenüber dem Iran ist eine kleine Sensation, die ihren wirklichen Wert freilich noch unter Beweis stellen muss.
Das alles lässt hoffen. Deutschland braucht Russland; die Bundesregierung kann dem großen Partner auch nicht vorschreiben, welchen Weg er zu gehen hat. Aber Deutschland kann Vorlagen liefern für die zu nehmende Entwicklung und anhand seiner eigenen erfolgreichen Geschichte zeigen, wie ein Rechtsstaat stabil wird, wie sozialer Friede funktioniert und demnächst vielleicht auch, wie man aus einer schweren Krise des Arbeits- und Sozialstaates wieder herausfindet.
Nach den Besuchen in Washington und Moskau wird deutlich, dass die Außenpolitik der neuen Amtschefin wieder auf traditionelle Bahnen zurückfindet. Diplomatie statt Kumpanei. Auf gar keinen Fall will man in eine Lage geraten, in der Deutschland etwa zwischen den USA und Frankreich entscheiden müsste. Schon gar nicht wird es mit Merkel eine Gewichtsverschiebung geben - weg von Amerika, hin zu ungewissen Abenteuern.

Artikel vom 17.01.2006