16.01.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Merkel will in Moskau Disput nicht scheuen

Nach Washington heute der Kreml auf dem Programm

Von Marc-Oliver von Riegen
und Friedemann Kohler
Berlin (dpa). Eine Männerfreundschaft wird es sicher nicht werden. Wenn Kanzlerin Angela Merkel (CDU) heute Präsident Wladimir Putin trifft, geht es um eine Neuausrichtung der Beziehungen mit Russland.

»Da trifft eher der Begriff der strategischen Partnerschaft zu«, betonte sie in einem Interview. Der Besuch wird noch unter dem Eindruck ihres Besuches bei US-Präsident George W. Bush stehen, der die ostdeutsche Pfarrerstochter kräftig umgarnt hatte (»Sie ist smart. Sie ist fähig.«).
Merkel ist die erste Regierungschefin einer führenden Industrienation in Moskau, seit Russland zum Jahresbeginn den Vorsitz der G8-Organisation übernommen hat. Mit Spannung wird erwartet, ob und wie sich Merkel von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) - einem Duzfreund Putins - abgrenzen wird. Auch wenn Putin Deutsch spricht und Merkel Russisch, heißt das noch nicht, dass beide politisch ebenfalls eine gemeinsame Sprache sprechen. Auf ihrer USA-Reise besprach sich die Kanzlerin schon einmal mit dem früheren amerikanischen Außenminister Henry Kissinger über Russland. Sie sieht zwar eine engere Verbundenheit zu den USA, strebt jedoch auch mit Russland eine »lebendige Diskussion« an und will den Disput nicht scheuen. Auch das könne ein Zeichen von Freundschaft sein, sagte Merkel.
Auf der Tagesordnung in Moskau wird wohl neben dem Atomstreit mit Iran und der Energieversorgung auch der Umgang mit gesellschaftlichen Gruppen und der Tschetschenien-Konflikt stehen. Wenn Merkel sich in den USA kritisch über das US-Gefangenenlager Guantánamo äußere, solle sie in Russland auch die Rechte der Opposition zur Sprache bringen, fordert Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU).
Die Kanzlerin gibt zu, dass ihr einige Entwicklungen »Sorgen machen, zum Beispiel die neuen Gesetze gegen Nicht-Regierungsorganisationen«. Sie warnt aber davor, die gleichen Maßstäbe anzulegen wie in Deutschland.
Bewusst trifft sich Merkel nicht nur mit Putin, sondern kommt noch in der deutschen Botschaft in Moskau mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen zusammen. Der Gasstreit mit der Ukraine hatte in Deutschland Sorgen wegen der Frage einer zu großen Abhängigkeit vom russischen Gas bereitet. Die Ostseepipeline von Russland nach Greifswald, die im Bau ist, nährt diese Sorgen ebenfalls.
Mit den neuen russischen Gesetzen zur schärferen Kontrolle von Zivilgruppen wird befürchtet, Moskau wolle auf eine mögliche Entwicklung wie bei der »Orangenen Revolution« in der Ukraine frühzeitig Einfluss nehmen.
Als Zeichen für die weiter hohe Bedeutung der deutsch-russischen Beziehungen wird indes in Berlin gewertet, dass bereits Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) und Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) in Moskau waren. Moskau beschwor vor dem Treffen Putin-Merkel »die Kontinuität bei der Entwicklung einer strategischen Partnerschaft«, als habe es in Berlin keinen Regierungswechsel gegeben. Ein Kreml-Sprecher rief zur getreuen Fortsetzung aller deutsch-russischen Großprojekte der Schröder-Zeit von der Ostseepipeline bis zum »Petersburger Dialog« auf.
Dahinter schwingt die Angst mit, dass die Kanzlerin andere Akzente setzen könnte als Schröder. Angesichts der Freundschaft Merkels zu den USA bliebe für Russland nicht mehr als eine nüchterne »strategische Partnerschaft«, schrieb die liberale Wochenzeitung »Moskowskije Nowosti«: »Auf einen Freundschaftskuss brauchen wir nicht mehr zu zählen.«

Artikel vom 16.01.2006