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Gemeinsam lautlos anschleichen . . .

Bielefelder Kinderbuchautorin Inken Beckmann liest in Kita »Weltweit«

Von Matthias Meyer zur Heyde und Carsten Borgmeier (Foto)
Bielefeld (WB). Hinter der Topfpflanze faucht es, unheilverkündendes Grollen dringt aus der Puppenstube, höchst verdächtig bewegt sich die Gardine. Und plötzlich greifen von überallher gewaltige Raubkatzen an: ein ganz normaler Vormittag in der Kita »Weltweit«.

Eine muntere Schar von Vier- bis Sechsjährigen, 15 an der Zahl, hat den Rollenspielraum der Rotkreuz-Einrichtung an der Waldemarstraße 4 betreten - 30 Minuten später ist das Zimmer voller Tiger. Denn in der Kita ist Tiggi zu Gast, der seine Existenz einer Bielefelder Autorin verdankt.
Oder dem siebenjährigen Lasse. Lasse ist der Sohn von Inken Beckmann (39) und will abends partout nicht ins Bett - jedenfalls nicht ohne Gute-Nacht-Erzählung. Also erfand Inken Beckmann den Jungtiger Tiggi, den Helden einiger »dschungeliger Vorlesegeschichten«, aus denen sie den »Weltweit«-Rangen vorlas (»Hey Tiggi«, gibt's für 17,80 Euro in fast allen Buchläden).
Kaum hat Tiggi sein Fleischbutterbrot mit Tigerkakao hinuntergespült, packt ihn die Abenteuerlust, und er geht die Elefanten besuchen. Die Rüsseltiere, auch die kleinen, egal ob sie Benjamin Blümchen oder - wie hier - Fanto heißen, machen laut »Törööö!«, was Tiggi zunächst erschreckt. Aber dann entdecken Tiger und Elefant, dass sie unterschiedliche Talente haben: Einer ist ein As im Baumstammweitwurf, der andere kann sich lautlos anschleichen. Kein Grund, auf Distanz zu gehen, im Gegenteil: Die beiden schließen Freundschaft.
Beriwan, Deborah, Dounia, Enes, Floriana, Gülcin, Janu San, Lara, Lisa, Maja, Mara, Melike, Melinda, Paulina und Sabiha erfahren beim Zuhören, dass die Sprösslinge unterschiedlicher Kulturen (durch die Kita toben 23 verschiedene Nationen) perfekt harmonieren können, wenn sie wollen. Vor allem aber lernen sie lautloses Anschleichen.
Denn kaum hat Petra Gorholt (43), die Inken Beckmanns Kinderbuch mit allerliebsten Zeichnungen schmückte, ein Kind auf Tiger geschminkt, ist der in der Evolution mühsam erworbene aufrechte Gang vergessen, und Mädchen und Jungen krabbeln auf allen Vieren durch den imaginären Dschungel. »Ich fresse dich!«, ruft Dounia, und Erzieherin Katja Depping erbebt. »Das wasch ich nie wieder ab«, verkündet Lisa und verschwindet, auf Beute lauernd, hinter der Gardine. Einzig Maja lutscht wohl lieber Blütennektar statt an Stielkoteletts, weshalb sie sich zum Schmetterling hat schminken lassen.
In Zeiten, in denen die Glotze das Buch verdrängt und Deutsch nicht nur von Flüchtlings- und Migrantenkindern als Fremdsprache wahrgenommen wird, setzen »Weltweit«-Leiterin Petra Schlegel und ihre 17 Mitarbeiterinnen gezielt auf Sprachförderung. Derzeit spielen und lernen hier 107 Kinder im Alter von einem halben bis zu 14 Jahren - die Schüler kommen manchmal schon vor Unterrichtsbeginn und werden hier bei den Hausaufgaben betreut.
Alles lernen die Kinder aus erster Hand kennen. »Wir gehen mit ihnen in die Stadtbibliothek, wir kaufen die Bücher gemeinsam, und jetzt hat uns Inken Beckmann in ihre Druckerei eingeladen«, erzählt die Kita-Chefin.
Das erfordert spezialisierte Pädagogen, das ist teuer, und - Sie ahnen es - das lässt Politiker reflexhaft den Geldhahn zudrehen: »Ab sofort dürfen wir keine Schüler mehr annehmen. Künftig betreuen wir nur noch Drei- bis Sechsjährige.« Eine integrative Kraft weniger. Armer Tiggi.

Artikel vom 14.01.2006