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Leid und Elend gehen zu Herzen

Vollziehungsbeamter der Gemeinde treibt Schulden ein - und hilft

Von Annemarie Bluhm-Weinhold
Steinhagen (WB). Mit der harten »Realtät« mancher TV-Dokumentation hat sein Arbeitsalltag nichts gemein: Zwar gibt es die Uneinsichtigen, die sich beharrlich jeder Zahlungsaufforderung entziehen, es gibt die unerfreuliche Klientel, gegen deren Beschimpfungen und Bedrohungen nur entschiedenes Vorgehen hilft. Aber da ist auch jede Menge Armut und Verwahrlosung hinter Steinhagener Wohnungstüren. Und dieses Elend treibt ihn um, die Sorge um seine Mitmenschen lässt ihn, den Vollziehungsbeamten der Gemeinde helfend tätig werden - auch auf ungewöhnlichen Wegen und über den Dienstauftrag hinaus.

Jürgen S. - seinen Namen möchte er wegen manch übler Zeitgenossen, mit denen er zu tun hat, nur abgekürzt wissen - treibt für die Gemeinde und für Behörden und weitere öffentliche Schuldner von außerhalb ausstehende Summen an Gebühren, Steuern, Ordnungs- und Strafgeldern sowie Fernseh- und Rundfunkgebühren ein. Ob Hunde- oder Gewerbesteuern, Kindergartenbeiträge oder Knöllchen, die sich Steinhagener Bürger in einer anderen deutschen oder österreichischen Stadt eingefangen haben: Wenn Mahnverfahren ungehört verhallen und die Vollstreckungsankündigung erfolglos bleibt, dann sucht der 59-Jährige die Schuldner persönlich auf. Rund 20-mal am Tag klingelt er an Haustüren in der Gemeinde - meist, um Kleinbeträge zwischen 50 und 150 Euro einzufordern. »Vieles klärt sich im persönlichen Gespräch dann schnell auf. Viele sind nur nachlässig und haben die Zahlung vergessen. Häufig sind es auch Missverständnisse, vor allem wegen Sprachschwierigkeiten«, zählt Jürgen S. auf.
Doch immer wieder kommt der Familienvater auch mit wirklichen Härtefällen in Berührung. Und das sind keineswegs die »harten« Jungs, die mit dem Baseballschläger auf den Vollziehungsbeamten losgehen - die hakt er sofort ab: »Angst habe ich nicht, dazu habe ich zu viel erlebt im Leben.« Was zu Herzen geht und sein Mitleid erregt, das ist das Leid: Das sind etwa die Kinder, die nicht einmal ausreichend zu essen bekommen, weil Vater und Mutter an der Flasche hängen. Das ist auch die alte Dame, bei der er Außenstände einzutreiben hat, und die er mit Mantel bekleidet vor der offenstehenden Backofentür antrifft, weil die Vermieterin kein Öl bestellt hat und die Wohnung kalt ist. »Da kann ich doch nicht tatenlos zusehen«, sagt Jürgen S. Einem Kind hat er schon einmal ein Fahrrad geschenkt. Der alten Dame hat er, als die Gemeinde nicht einspringen konnte, kurzerhand seinen eigenen Heizofen zur Verfügung gestellt, bis seine Verhandlungen mit der Vermieterin Erfolg hatten und wieder Öl im Tank war.
Auch das sind natürlich Extremfälle. Meist reicht es, wenn Jürgen S. verzweifelten Schuldnern Tipps und Ratschläge gibt, ihnen Lösungen anbietet. Häufig erarbeitet er mit ihnen einen Finanzplan, damit sie ihre Schulden begleichen können. »Es ist mir wichtig, die Leute nicht allein zu lassen. Sie müssen ja zahlen, und da muss man doch gemeinsam nach Möglichkeiten suchen.«
Armut und Elend, die kennt Jürgen S. aus Asien zur Genüge. Dort war der gebürtige Steinhagener zehn Jahre lang als Verkaufsleiter und Personalchef für eine weltbekannte Computerfirma tätig. Ein schwerer Herzinfarkt brachte ihn in seine Heimatgemeinde zurück - und zu seiner heutigen Tätigkeit für die Gemeinde. Der Vorgänger ging in Ruhestand, die Stelle war frei, Anfang 2002 wurde Jürgen S. eingestellt und mit Seminaren und Kursen beim Studieninstitut Hannover und in Bielefeld auf seinen Dienst vorbereitet. »Für mich begann mein zweites Leben«, sagt der 59-Jährige.

Artikel vom 14.01.2006