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Heinrichs guter, großer Mund freute sich bis an die Ohren, und er verkündete schnell mit einer wichtigen Gebärde vom Bock herab, was die andern Pferde machten.
Es war Anna ein wenig beklommen zumut, wie sie mit den Eltern im Wagen fuhr. Kam es nur, weil sie jetzt zum erstenmal merkte, daß sie erwachsen war, weil Vater es mit fröhlichem Behagen immer wieder anbrachte und weil sie im Landauer neben Mutter sitzen mußte, statt auf dem Rückplatz?
Zu Hause im alten Hofe hatte der Frühling auf sie gewartet; da blühten noch die großen Apfelbäume, und der Goldregen hing schwer von seinem Reichtum bis auf den dunklen Teich herab.
Und nun stand Anna wieder in dem großen Hausflur, wo es immer ein wenig dumpf und düster war, weil die Tannen draußen die Sonne nicht hereinließen; nur kleine, grelle Fleckchen kletterten um die Hirschgeweihe an der grünen Wand.
Nach dem Kaffee ging Frau Sophie mit ihrer Tochter im Park spazieren. Immer wieder sagte sie, wie sie hoffe, daß Anna sich wohl zu Hause fühlen möchte; sie verstünde sehr gut, wenn ihr das Einleben in der Stille erst schwer würde, nach dem lebhaften jugendlichen Dasein in der Pension. Und durch ihre Stimme klang wieder das Entschuldigende, als bäte sie ihr all die Einsamkeit ab, der sie früher das kleine Mädchen überlassen hatte.

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rüher hätte sie gewiß keine Zeit gehabt, so lange mit Anna im Garten zu spazieren. Aber jetzt war es anders. Es tat ihr wohl, mit der Tochter zu sprechen, ihr alles zu erzählen, was das stille Leben auf Brakenhorst gebracht. Sie sprach besonders eingehend von des Vaters Älterwerden; er litte sehr unter seiner Gicht. Oft hatte er solche Schmerzen, daß sie nächtelang bei ihm wachsitzen mußte und ihn pflegen.
Als sie davon erzählte, wußte Anna auf einmal, woher die Veränderung der Eltern kam, die sie schon im Wagen bemerkt hatte. Sie waren beide älter geworden, und Vaters Kranksein mußte irgendeine freundliche Versöhnung gebracht haben. Wenn Mutter auch bekümmert von seinen Schmerzen sprach, man fühlte doch das Glück durch, daß sie ihn pflegen mußte und daß er sie nachts aus dem Schlaf weckte, weil es ihm wohl tat, wenn sie bei ihm saß.
Sie waren schon ein paarmal am Teich vorübergegangen, an den buchseingefaßten Rabatten und Vergißmeinnichtbeeten.
»Wann kommt Erli?« fragte Anna.
Die Mutter seufzte und schwieg einen Augenblick. »Ich fürchte, es wird viel Aufregungen geben, wenn er hier ist. Er macht uns allen große Sorge.«

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nd sie erzählte, wie Tante Mieke neulich weinend zu ihnen gekommen sei mit einem Brief des Lehrers, bei dem er wohnte; statt seine Aufgaben ordentlich zu machen, stecke er die ganzen Nachmittage auf dem Tennisplatze, und das Schlimmste: er habe sich bei seinen älteren Kameraden Geld geborgt für ein Abonnement in der Artilleriemanege und ein paar Reitstiefel bestellt für dreiunddreißig Mark.
Dies hatte den Lehrer als das Allersündhafteste berührt, und auch Fräulein Rabe, die Gesellschafterin aus den Ostseeprovinzen, wiederholte oft und schmerzlich-schnarrend: »Diese Rree-itstiefel für drree-iunddree-ißig Mark.«
»Er ist schon immer leichtsinnig gewesen«, sagte Frau Sophie leise.
Ja, das wußte Herr Kandidat Busse ganz genau; wenn er sich ärgerte über sein Türenzuschlagen und Pfeifen draußen im Flur, nachdem er Schelte empfangen hatte, die zerschmettern sollten.
Anna war erschrocken über diese beängstigenden Aussichten für die Zukunft. »Jetzt steht Vater noch als Vormund über ihm, aber wie, wenn er mal mündig wird und Verfügung über sein großes Vermögen bekommt!«
Abends nach Tisch saßen Helhusens im Wohnzimmer in den alten Rokokosesseln um den runden Tisch; der Hauptmann hatte neben sich die Rotweinflasche stehen, und manchmal legte er seine Zigarre auf die Tischkante, um aus der Tageszeitung vorzulesen. Frau Sophie handarbeitete. So war es immer gewesen, seit Anna denken konnte. Es kam ihr früher als Kind so feierlich vor, daß sie immer auf den Zehen ging, wenn sie zum Gute-Nacht-Sagen hereinkam.
Nun saß sie selbst in dem warmen, goldbraunen Licht, das unter dem Schirm der Zuglampe hervordrang und sich in bescheidenem Kreis um den Wohnzimmertisch lagerte. Die Täfelung zwischen dem großen Bücherschrank und den übrigen Möbelstücken an der Wand überließ es gleichgültig der Dunkelheit; nur nach einem der goldenen Bilderrahmen griff es hier und da oder deutete wenigstens auf eine besonders blank vorstehende Rundung.
Um zehn Uhr wurde zu Bett gegangen.
Anna stand in ihrer Stube und fing an, die Sachen aus ihrem Koffer herauszunehmen; all die Kleider, die sie in der Pension getragen hatte, Bücher - Grammatiken, die keine Sehnsucht erweckten - aber auch Klassiker; Heiligtümer, denen man nicht begegnen konnte ohne eine feierliche Andacht zur Ehre des Herrn Professors Planthold.
Wie wunderlich, daß all dies nun hier in ihrer Stube lag, in der die Luft noch einen dumpfen, feuchten Geruch festhielt vom langen Leerstehen.
Mutter hatte zwar alles neu herrichten lassen. Die Fensterrahmen waren frisch gestrichen, die Gardinen hell und duftig aufgesteckt. Nur die kornblumenfarbige Tapete mit den grauen Rosen durfte nicht gewechselt werden, denn dieser alten Tapete wegen, die schon an einigen Stellen gerissen war, hatte sich Anna früher das Zimmer gewünscht.
Ihr kleiner Schreibtisch stand in der Fensternische zwischen den dicken Mauern. Sie zog die Photographien von Brigitte, ihren Lieblingslehrerinnen und Mitschülerinnen aus dem Kofferfach hervor und verteilte sie dort neben dem Strauß Marschall-Niel-Rosen, die der Gärtner für sie aus dem Treibhaus gebracht hatte.
Sie setzte sich auf die Fensterbank und betrachtete die Bilder. Und sie schaute sich in ihrer Stube um. Wie düster sah sie doch aus! Die blaue Tapete wurde fast schwarz beim Lampenlicht; die Möbel standen so stumm und verdrießlich da, weil sie die Gegenwart der Bewohnerin nicht mehr gewöhnt waren.
Anna weinte.
In der Pension hatte man sie doch immer geneckt mit ihrer Begeisterung, wenn sie von zu Hause erzählte, und sie hatte auch immer Heimweh gehabt, auf jedem Spaziergang. Nirgends kam ihr die Welt so schön vor wie in Brakenhorst, auch nicht in den Bergen, wenn sie Ausflüge machten.

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nd nun saß sie daheim in ihrem Zimmer und mußte weinen. Sie sah aus dem Fenster an der hellen Mauer hinunter in den Teich. Vom Ufer her duftete das saftige Mark der Holundersträucher durch die Nacht. Reglos stand der dunkle Tannenwand. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 28.01.2006