27.01.2006
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Dies alles zu betrachten entschädigte reichlich für die Unfaßlichkeit seiner Geschichten. Und Milius war mit Annas Aufmerksamkeit sehr zufrieden und steigerte deshalb die Verwicklung seiner Phantasiebegebenheiten.
Fünftes Kapitel
Und dann hörte man fast täglich den Ponywagen von Haus Brocke durch das Tor rollen. Mit dem alten Pony konnte man überhaupt nur noch nach Brakenhorst fahren, niemand hätte es fertiggebracht, ihn über die Allee hinauszulenken, wo es zur Stadt weiter ging, denn der Pony bog ins Hoftor ein; das hatte er während der Schulzeit bei Herrn Kandidat Busse gelernt. Wenigstens den Prellstein mußte er erst anfahren, auf den hatte er es nun mal abgesehen; er liebte das laute Dröhnen des Hofpflasters, das die Nähe des Stalls kündete, und wenn es anfing unter den Rädern zu poltern, dann senkte er den Kopf, überließ sich seinem kurzatmigen Gefühl, und dann flog der Wagen schief über den Prellstein.
Während der Ferien war es aber immer wie ein richtiger Besuch, wenn Erli kam. Meistens saßen sie dann bei den Eltern in der Wohnstube, oder Erlis Mutter, Tante Mieke, kam mit, wenn sie kein Kopfweh hatte, oder Helhusens fuhren nach Haus Brocke.
Es war vieles anders geworden. Wenn Besuch von den Nachbargütern kam, mußten sie mit der Jugend die gleiche überlieferte Verwendung des Nachmittags einhalten wie die Eltern. Man konnte nicht mehr von den Mahlzeiten entwischen, die eine Hauptbeschäftigung darstellten, man mußte mit den andern in die Ställe gehen und sich dabei unterhalten, und auf dem Tennisplatz hatte man zur Erbauung der älteren Herrschaften zu spielen, die von ferne saßen und die Pausen im Gespräch durch Interesse am Eifer der Jugend ausfüllten.
Nur selten gelang es, all die jungen Damen und Herren verschiedensten Alters auf der Fohlenweide in einer langen Kette zu vereinen und die Fohlen oder Rinder für einen streng verbotenen Wettlauf zu begeistern É
Wenn Anna und Erli mal allein draußen auf der Bank saßen, war es oft stumm zwischen ihnen. Jeder fühlte sich in eine eigne Welt versetzt, die dem andern nicht zugänglich war.
M
Erli prahlte oft mit Schulgeschichten, denen Anna nichts Ebenbürtiges gegenüberzustellen hatte. Was sollte sie erzählen von Herrn Professor Plantholds Literatur- und Kunstgeschichtsstunden. Erli hätte nur gemerkt, daß sie für ihn schwärmte, und das Große, Bedeutsame dieser Stunden hätte er doch nicht begriffen.
J
Über so etwas redete Anna nicht einmal zu ihrer Freundin Brigitte Sparre, obgleich sie ihr am bewundernswürdigsten erschien; denn sie war unter lauter Brüdern aufgewachsen und stand in geistiger wie körperlicher Geschicklichkeit einem gleichaltrigen jungen Mann kaum nach. Sie stiftete oft zu großen Unarten an, zu nächtlichen Ausflügen und Baumbesteigungen; aber dabei wurde auch etwas geleistet, in Klettern und Geschwindigkeit. Während der Schulstunden machte sie Lehrer und Lehrerinnen verlegen, weil sie soviel wußte, und noch mehr durch Fragen, da wo sie nicht wußte. Besonders in Naturwissenschaften; denn sie hatte ihren Brüdern schon auf dem Laboratorium geholfen. Sie nahm mit einigen andern Privatstunden bei Professor Planthold in Latein und Mathematik; später wollte sie ihr Abitur machen, dann studieren und zeigen, was eine selbständige Frau leisten kann.
Brigitte Sparre war das Ideal eines modernen Mädchens. Anna verehrte sie und war glücklich, ihre Freundin zu sein und bei all ihren Unternehmungen an verantwortlicher Stelle verwendet zu werden. Manchmal war Brigitte sogar zärtlich zu ihr, dann nannte sie sie »schwarzes Pferdchen mit dem schmalen Kopf«, und sagte: »Eigentlich willst du immer durchgehen, aber du läufst ganz gut am Zügel.«
I
Die Eltern äußerten jedoch Anna nichts von ihrer Abneigung. Sie hatten sich von jeher daran gewöhnt, ihr viel Freiheit zu lassen, und wie die Eheleute unter sich immer etwas Entschuldigendes hatten und eins dem andern, wie um irgendeine alte Schuld abzutragen, alle Höflichkeit und Nachsicht erwiesen, so hatten sie auch Anna gegenüber dieses Verhalten angenommen, namentlich seit sie kein Kind mehr war und die ernste Stirn oft in nachdenkliche Falten zog.
E
Noch eines verstimmte ihn gegen Brigitte: Er schrieb ihrem Einfluß die allzu großen breiten Schuhe zu, die Anna jetzt mit Vorliebe trug, und die geraden Jungensjacken ohne Taille. Er wußte nicht den tiefinnern Grund: daß alles Damenhafte albern war und dumm, daß für solche Mädchen wie Brigitte und Anna, die einmal was Bedeutendes in der Welt zu leisten vorhatten, die uneitle herrenmäßige Kleidung das einzig Würdige war.
All dies, was Erli an Anna auszusetzen hatte, wenn es auch nur mit der mißglückten Höflichkeit eines Scherzes geschah, brachte solch einen gezwungen, gereizten Ton zwischen sie, daß Anna oft abends in ihrem Bett weinte.
Immer wieder vor den Ferien belog sie sich mit sehnsüchtigen Erinnerungen an ihre Kindheit, mit dem Bach in der Fohlenweide und mit Erli, der immer ihr Trost gewesen, wenn Käthe und Milchen stolz von ihren Brüdern erzählten - sie hatte Erli, und der war geradeso gut wie Käthe und Milchens Brüder. Nun aber, nun war Erli oft häßlich zu ihr. Auch schien er wenig strebsam in der Schule zu sein und hatte keinen Sinn für Annas ernste Lernbegier.
So war es eigentlich jedesmal eine Wohltat, wenn die Ferien zu Ende gingen und sie wieder zu ihren Freundinnen kam, mit denen sie gleichem Ziele entgegenplanen konnte.
Sechstes Kapitel
dinnen hatten um die Verlängerung von Ostern bis Pfingsten gebeten, um einige Lieblingsfächer bei einigen Lieblingslehrerinnen noch freiwillig auszukosten.
In der Woche vor Pfingsten kam sie nach Hause. Ein wenig müde und verweint sah sie aus, als Vater und Mutter sie an der Bahn abholten; und sie mußte sich nun doch freuen, denn Vater und Mutter freuten sich, sie zeigten es in jeder kleinen äußern Fürsorge; Vater gab dem alten Gepäckträger, der schon ganz krumm vor Eifer war, ein besonders gutes Trinkgeld - weil er nun so bald keine Gelegenheit wieder hätte, diesen Koffer zu befördern.
Die Begrüßung mit Kutscher Heinrich und den beiden Pferden war besonders innig.
Artikel vom 27.01.2006