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Denn verstehen konnte sie seine Erzählungen doch nicht; weil er immer, um die Spannung zu erhöhen, zwei bis drei Geschichten durcheinander vortrug; und ein feines Taktempfinden verbot, Fragen dazwischen zu tun; man hätte damit von seinem Gesicht den verklärten lächelnden Schein fortgewischt oder hätte die Darstellungen seiner Hände gestört. Der Zeigefinger war nämlich so lang, daß das oberste Glied immer schon einen Satz vorauserzählte.
Dies alles zu betrachten entschädigte reichlich für die Unfaßlichkeit seiner Geschichten. Und Milius war mit Annas Aufmerksamkeit sehr zufrieden und steigerte deshalb die Verwicklung seiner Phantasiebegebenheiten.


Fünftes Kapitel
Anna und Erli sahen sich selten während der Jahre, die Anna in Pension war und Erli auf dem Gymnasium in Hannover. Ihre Sommerferien fielen nicht in die gleichen Wochen. Nur zu den Festen waren beide zu Hause.
Und dann hörte man fast täglich den Ponywagen von Haus Brocke durch das Tor rollen. Mit dem alten Pony konnte man überhaupt nur noch nach Brakenhorst fahren, niemand hätte es fertiggebracht, ihn über die Allee hinauszulenken, wo es zur Stadt weiter ging, denn der Pony bog ins Hoftor ein; das hatte er während der Schulzeit bei Herrn Kandidat Busse gelernt. Wenigstens den Prellstein mußte er erst anfahren, auf den hatte er es nun mal abgesehen; er liebte das laute Dröhnen des Hofpflasters, das die Nähe des Stalls kündete, und wenn es anfing unter den Rädern zu poltern, dann senkte er den Kopf, überließ sich seinem kurzatmigen Gefühl, und dann flog der Wagen schief über den Prellstein.
Während der Ferien war es aber immer wie ein richtiger Besuch, wenn Erli kam. Meistens saßen sie dann bei den Eltern in der Wohnstube, oder Erlis Mutter, Tante Mieke, kam mit, wenn sie kein Kopfweh hatte, oder Helhusens fuhren nach Haus Brocke.
Es war vieles anders geworden. Wenn Besuch von den Nachbargütern kam, mußten sie mit der Jugend die gleiche überlieferte Verwendung des Nachmittags einhalten wie die Eltern. Man konnte nicht mehr von den Mahlzeiten entwischen, die eine Hauptbeschäftigung darstellten, man mußte mit den andern in die Ställe gehen und sich dabei unterhalten, und auf dem Tennisplatz hatte man zur Erbauung der älteren Herrschaften zu spielen, die von ferne saßen und die Pausen im Gespräch durch Interesse am Eifer der Jugend ausfüllten.
Nur selten gelang es, all die jungen Damen und Herren verschiedensten Alters auf der Fohlenweide in einer langen Kette zu vereinen und die Fohlen oder Rinder für einen streng verbotenen Wettlauf zu begeistern É
Wenn Anna und Erli mal allein draußen auf der Bank saßen, war es oft stumm zwischen ihnen. Jeder fühlte sich in eine eigne Welt versetzt, die dem andern nicht zugänglich war.

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anchmal kam so ein fremdes Unbehagen zu ihnen, wie früher, wenn sie sich gezankt hatten. Aber nun hatten sie sich gar nicht gezankt, im Gegenteil, Erli war höflich bei jeder Gelegenheit, und Anna machte es jedesmal eine verlegene Freude, wenn er seine Ritterlichkeit auch an ihr ausließ. Und doch rührte daher das Unbehagen; denn Erli fand andere Mädchen in Hannover viel hübscher als Anna, und jede seiner Ritterlichkeiten galt eigentlich ihrem Andenken; das war zu merken, auch wenn man es nicht wußte.
Erli prahlte oft mit Schulgeschichten, denen Anna nichts Ebenbürtiges gegenüberzustellen hatte. Was sollte sie erzählen von Herrn Professor Plantholds Literatur- und Kunstgeschichtsstunden. Erli hätte nur gemerkt, daß sie für ihn schwärmte, und das Große, Bedeutsame dieser Stunden hätte er doch nicht begriffen.

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a, Anna schwärmte für Herrn Professor Planthold, obgleich sie es nicht leiden konnte, daß man es tat. Deshalb mochte sie die meisten jungen Mädchen nicht, weil sie schwärmten, weil sie Lieben hatten und so damenhaft waren. Sie taten, als seien sie zu fein, ihre Arbeiten gut zu leisten. Wenn sie von Herrn Professor Planthold redeten, dann sprachen sie wie von irgendeinem Herrn, von seinen Augen, mit denen er sie ansah. Für Anna war er ganz anders - wie ein König aus dem Morgenland, der unbegreifliche Schätze mitbrachte, die machen, daß man nicht weiß, ob man jubeln oder weinen soll - wie der Duft der Schlüsselblumenwiese, auf der einst der Frühling wohnte.
Über so etwas redete Anna nicht einmal zu ihrer Freundin Brigitte Sparre, obgleich sie ihr am bewundernswürdigsten erschien; denn sie war unter lauter Brüdern aufgewachsen und stand in geistiger wie körperlicher Geschicklichkeit einem gleichaltrigen jungen Mann kaum nach. Sie stiftete oft zu großen Unarten an, zu nächtlichen Ausflügen und Baumbesteigungen; aber dabei wurde auch etwas geleistet, in Klettern und Geschwindigkeit. Während der Schulstunden machte sie Lehrer und Lehrerinnen verlegen, weil sie soviel wußte, und noch mehr durch Fragen, da wo sie nicht wußte. Besonders in Naturwissenschaften; denn sie hatte ihren Brüdern schon auf dem Laboratorium geholfen. Sie nahm mit einigen andern Privatstunden bei Professor Planthold in Latein und Mathematik; später wollte sie ihr Abitur machen, dann studieren und zeigen, was eine selbständige Frau leisten kann.
Brigitte Sparre war das Ideal eines modernen Mädchens. Anna verehrte sie und war glücklich, ihre Freundin zu sein und bei all ihren Unternehmungen an verantwortlicher Stelle verwendet zu werden. Manchmal war Brigitte sogar zärtlich zu ihr, dann nannte sie sie »schwarzes Pferdchen mit dem schmalen Kopf«, und sagte: »Eigentlich willst du immer durchgehen, aber du läufst ganz gut am Zügel.«

I
n den Sommerferien durfte Anna sie manchmal für einige Wochen mitbringen, obgleich die Eltern sie nicht sehr liebten, weil sie soviel sprach - im Berliner Dialekt - und Herrn Hauptmann ihre politischen Grundsätze darlegte, worin auch die Stellung zur Frauenbewegung eingeschlossen war.
Die Eltern äußerten jedoch Anna nichts von ihrer Abneigung. Sie hatten sich von jeher daran gewöhnt, ihr viel Freiheit zu lassen, und wie die Eheleute unter sich immer etwas Entschuldigendes hatten und eins dem andern, wie um irgendeine alte Schuld abzutragen, alle Höflichkeit und Nachsicht erwiesen, so hatten sie auch Anna gegenüber dieses Verhalten angenommen, namentlich seit sie kein Kind mehr war und die ernste Stirn oft in nachdenkliche Falten zog.

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rli hatte Brigitte nur flüchtig kennengelernt. Er war sehr enttäuscht. Zwar mußte er den Ruhm gelten lassen, der ihr vorausging; aber das war gerade das Ärgerliche. Vor ihr konnte er nicht mit seinen Schulgeschichten prahlen, weil sie gleich noch eine tollere von ihren Brüdern wußte; in Latein und Mathematik war sie auch soweit wie er; in Klettern aber sich mit einem Mädchen zu messen blieb verschmäht, denn er hatte sich Damen gegenüber jetzt ein überlegenes, hilfsbereites Benehmen zu eigen gemacht, vom Tennisplatz her, wo er in Hannover mehr Zeit verbrachte, als seine Lehrer wissen durften.
Noch eines verstimmte ihn gegen Brigitte: Er schrieb ihrem Einfluß die allzu großen breiten Schuhe zu, die Anna jetzt mit Vorliebe trug, und die geraden Jungensjacken ohne Taille. Er wußte nicht den tiefinnern Grund: daß alles Damenhafte albern war und dumm, daß für solche Mädchen wie Brigitte und Anna, die einmal was Bedeutendes in der Welt zu leisten vorhatten, die uneitle herrenmäßige Kleidung das einzig Würdige war.
All dies, was Erli an Anna auszusetzen hatte, wenn es auch nur mit der mißglückten Höflichkeit eines Scherzes geschah, brachte solch einen gezwungen, gereizten Ton zwischen sie, daß Anna oft abends in ihrem Bett weinte.
Immer wieder vor den Ferien belog sie sich mit sehnsüchtigen Erinnerungen an ihre Kindheit, mit dem Bach in der Fohlenweide und mit Erli, der immer ihr Trost gewesen, wenn Käthe und Milchen stolz von ihren Brüdern erzählten - sie hatte Erli, und der war geradeso gut wie Käthe und Milchens Brüder. Nun aber, nun war Erli oft häßlich zu ihr. Auch schien er wenig strebsam in der Schule zu sein und hatte keinen Sinn für Annas ernste Lernbegier.
So war es eigentlich jedesmal eine Wohltat, wenn die Ferien zu Ende gingen und sie wieder zu ihren Freundinnen kam, mit denen sie gleichem Ziele entgegenplanen konnte.


Sechstes Kapitel
Als Annas achtzehnter Geburtstag vorüber war, sollte sie nach Hause zurückkehren. Sie und ihre Freun-
dinnen hatten um die Verlängerung von Ostern bis Pfingsten gebeten, um einige Lieblingsfächer bei einigen Lieblingslehrerinnen noch freiwillig auszukosten.
In der Woche vor Pfingsten kam sie nach Hause. Ein wenig müde und verweint sah sie aus, als Vater und Mutter sie an der Bahn abholten; und sie mußte sich nun doch freuen, denn Vater und Mutter freuten sich, sie zeigten es in jeder kleinen äußern Fürsorge; Vater gab dem alten Gepäckträger, der schon ganz krumm vor Eifer war, ein besonders gutes Trinkgeld - weil er nun so bald keine Gelegenheit wieder hätte, diesen Koffer zu befördern.
Die Begrüßung mit Kutscher Heinrich und den beiden Pferden war besonders innig. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.01.2006