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Aber es gab auch welche, die plötzlich kamen, die einen sogar bei gutem Gewissen ereilen konnten, deren Notwendigkeit nicht zu ergründen war. Diese Strafen hatten bei allem Schrecken noch etwas Geheimnisvolles; die Betroffenen wußten nicht, daß sie eigentlich von jenem Urgroßvater mit der blutigen Weste herrührten, denn der hatte ja den Jähzorn vererbt, der alle paar Monate bei Hauptmann Helhusen ausbrach und ganz wahllos traf, wem er begegnete.
Eines Nachmittags, als Anna etwa dreizehn und Erli elf Jahre alt war, ärgerte ihn ein kleiner blauer Wagen der Kinder, den sie vor dem Haferhause hatten stehen lassen. Er schickte Frittken Knollmann nach ihnen; aber der konnte sie nicht finden. Wie oft waren sie nachmittags unterwegs, und niemand fragte danach. Jetzt schickte der Frittken in das Feld, wo die Stiegen standen, und in den Wald - er solle sie suchen. Der blaue Wagen hatte ihn an einen Augenblick in seiner frühen Knabenzeit erinnert, da er zum erstenmal den Mann in sich fühlte. Es war ein häßlicher Augenblick, von dem er nie zu jemand mit einem Wort gesprochen hätte, selbst nicht bei der letzten Beichte.
Das lange Warten reizte seinen Zorn immer stärker. Er malte sich das Schlimmste aus, das geschehen könnte. Frau Sophie versuchte ihn zu beruhigen, aber er schritt wie besinnungslos im Flur auf und nieder und stieß zur Seite, wen er nahe bekam, und stach nach ihm mit seinen unbeherrschten Augen.

N
ach langem Warten kamen Anna und Erli Hand in Hand ganz langsam über den Hof. Schlimmeres hätte nicht geschehen können, als daß sie Hand in Hand gingen. Der Hauptmann riß das Fenster auf; was das heißen sollte! Sie hätten augenblicklich zu kommen! Und nun herrschte er sie an mit seiner allerfurchtbarsten Stimme: »Wo seid ihr gewesen! Und was habt ihr getan!«
Anna und Erli weinten und konnten nicht antworten. Da schrie er sie noch heftiger an: »Ich werde euch verbieten, zusammen zu gehen!« Da trat die Mutter dazwischen und faßte ihn am Arm: »Ich erlaube dir nicht, daß du die Kinder quälst, wie du mich gequält hast!«
Da wurde er wohl an die Geschichte vom kleinen Bruder erinnert, denn sein Zorn versank plötzlich in einem hilflosen Schweigen. Er ging hinaus, weil er nun weinen mußte.
Als Anna und Erli wieder sprechen konnten, kam heraus, daß sie Karoline besucht hatten.
Gewiß war es eine Sünde, so viel Pickert und Bickbeeren zu essen, daß man Leibweh kriegte; aber daß man solche Schelte dafür bekam, das war zu arg! Woher wußte Vater es überhaupt?
Es blieb eine unverstandene Geschichte, und Anna wagte lange nicht mehr, sich mit Erli sehen zu lassen. Damit Vater nicht wieder meinte, sie hätten zuviel Pickert gegessen.

Viertes Kapitel
Es kamen Jahre für Brakenhorst, wo es schien, als wolle die weite Welt eindringen in das niedere, schwere Land. Die weite Welt, die hinter den heidigen Hügeln liegt, fern am Horizont; woher im Juli der Höhrauch aus dem Oldenburgischen kommt; wo der Jahrmarkt von Blasfelden gefeiert wird, der laut und bunt und sündig ist, daß der Kutscher die Pferde nicht halten kann, wenn es abends an den Karussellen und Schießbuden vorübergeht. Da sind die Städte mit den eiligen, vielwissenden Menschen, mit den reichen, geputzten, die nach Juchten und falschen Maiglöckchen duften, und den armen, mit nackten Füßen, die müde und mißmutig an der schmutzigen Haustür lehnen, wenn sie von der Arbeit kommen. Und alle die Meere und Flüsse und Berge, von denen Herr Kandidat Busse verlangte, daß Anna und Erli ihre Namen behielten. Das alles lag hinter den heidigen Hügeln.
Und jetzt sollte die Eisenbahn von dorther durch dies schüchterne ungestörte Land fahren - ganz nahe an Brakenhorst vorbei, hinter der großen Lindenallee. Mitten durch den Kamp hatte die Kommission ihre kleinen Fähnchen gesteckt und durch die Wiesen; da sollte ein Damm gebaut werden.
Hauptmann Helhusen mußte zwölf Morgen her
geben und immer wieder zu Sitzungen in die Stadt fahren, denn die Bauern machten größte Schwierigkeiten. Was brauchten sie eine Eisenbahn! Früher hatten sie auch keine, und es fiel ihnen gar nicht ein, ihre Felder und Wiesen herzugeben! Wenn sie noch so gut entschädigt würden. Sie wollten das Stück behalten, das ihnen mal gehörte, ihren Vätern und Großvätern. »Ick dauĂ•t mol nich!« hatte Pahlsbröker, Luisens Vater, alle gewandten und wohlwollenden Auseinandersetzungen des blonden Kommissars zurückgewiesen. Als der ihm dann schließlich deutlich machte, daß die Bahn dem König gehöre und daß der ihn enteignen könne, da richtete er sich mit zornig rotem Kopfe auf und schlug auf den Tisch: »Nee, wenn ick et denn daun mot, denn will ick et ook freewillig daun!«
Und so wurde das Geleise durch die Felder gelegt, und die Dämme in den Wiesen aufgeschüttet.

Es war gut, daß Anna während dieser Jahre in Pension sein mußte und nicht sah, wie sie in Rokinghus die Heide forttrugen - all die Ginsterbüsche und wilden Rosen und die Immortellen, die man doch Himmelfahrt brauchte für den Kranz um das Bild des kleinen verstorbenen Bruders; und die weißen Ziegen, die am Rain angepflöckt waren und so bekümmerte Gesichter machten.
Und Sevings Kotten! Da war Anna nie ohne Herzklopfen vorbeigegangen. Schon als kleines Kind, weil der Rauch immer dick und lauernd aus der Türe kam und schwarz unter dem bröckligen Dachfirst sitzenblieb, denn einen Schornstein gab es nicht auf Sevings Kotten.

A
ls zehnjähriges Mädchen hatte sie mal eine schreckliche Stunde dort verlebt. Sie mußte mit Erli vor einem Gewitter flüchten und kam nun dort in die Stube, wo die alte Großmutter wohnte, die am Boden hockte, weil sie nicht mehr sitzen konnte. Jahr und Tag hockte sie da, mit unruhigen Augen und einem verzerrten Munde, als lachte sie. Die Leute sagten von ihr, daß sie nicht sterben konnte, daß sie warten mußte, bis alle Haut von ihren Knochen geschrumpft sei.
Da sollte nun Anna mit Erli auf der Bank sitzen und voll stummen Grauens nach der alten Frau hinsehn.
Aber es geschah etwas viel Schlimmeres.
Die junge Köttersfrau, die vorher einige Beruhigung verbreitet hatte durch das unerschrockene Klappern ihrer Holzschuhe und durch ihr Zureden, Platz zu nehmen, die holte nun aus der Wiege ihr Kleinstes und nahm es an die Brust.
Soetwas hatte Anna noch nie gesehen; und in der Entschlossenheit der höchsten Not faßte sie Erli an der Hand und rannte mit ihm hinaus in den Regen.
Zu Hause bekamen sie Schelte, weil sie so naß waren; und sie wurde gefragt, warum sie nicht gewartet hätten, bis es aufhörte. Aber darauf konnte Anna nicht antworten.
Was es war, wußte sie ja selbst nicht; sie wußte nur, daß es schrecklich war und daß alles mit der alten Frau zusammenhing und mit dem dicken Rauch, der aus der Tür kam.

S
evings Kotten hatte nie das Unheimliche für Anna verloren. Später, als sie größer war, hörte sie, daß die alte Frau gestorben sei.
Aber sie konnte ja gar nicht sterben, das wußte sie so gut wie die Leute. Wenn man sie auch in einen Sarg gelegt hatte und auf dem Harvelinghauser Friedhof begraben - man hatte sie dadurch nur von dem ewigen Sitzen erlöst. Das kam ja auch nicht von ungefähr; der Gärtner wußte genau, woher das kam. Ihr Sohn war ja der Brandstifter, der es bei jedem Gewitter machen konnte, daß der Blitz einschlug; man wußte es lange Zeit nicht, sondern glaubte, es käme von den vielen Wasserläufen, daß es so oft in der Gegend einschlug.
Vor ihm zitterte der Schäfer, wenn er nachts auf Anschlagen seines Hundes aus dem Karren kroch, vor ihm zitterte der Gendarm, denn seinen Vorgänger hatte er am Rokinghauser Brink erschlagen, als der ihn faßte, weil aus der Bielefelder Bank sechshundert Mark gestohlen waren. Da mußte er nach Amerika fliehen und ließ zu Hause auf dem Tisch einen Zettel liegen, daß er die sechshundert Mark in der Heide vergraben hätte - sie sollten sie nur suchen. Und dies war die Strafe für die alte Mutter, daß sie von dem Gelde wußte und es sich nicht suchen konnte, weil sie am Boden hocken mußte, Tag und Nacht.
Nun wurde die Heide umgegraben, bevor die Geschichte zu Ende war; es nützte nichts mehr, daß man Schäfer Milius frug, wie es weiter ging.

S
chäfer Milius war Annas Freund. Wenn er auszog und mit seiner Herde die ganze Allee füllte, konnte man am besten neben ihm hergehen; denn da sorgte der Hund für tadellose Haltung seiner auseinanderstrebenden Gesellschaft, die sich mit kläglicher Demut in die Linien fügte, wenn er sie mit eiferhängender Zunge auf- und abparadierte. Da unterhielt sich Milius am liebsten. Der lange Schäferstab und die Schritte in den großen faltigen Stiefeln hielten seine Gedanken im Takt. Anna jedoch war es lieber, auf der Weide vor ihm zu stehn und in sein vorstrebendes Gesicht zu gucken, wenn er den breitkrempigen Hut etwas aus der Stirne schob; denn da erst fing er an, Geschichten zu erzählen. Daß er bisweilen seinen Kopf herrisch über die Märchengeschehnisse erhob und seinem Hunde Befehle zurief, das störte Anna nicht. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.01.2006