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Erstes Kapitel
Das alte Gutshaus von Brakenhorst lag so versteckt hinter der schwarzen Tannenreihe am Teich, daß man vom Hof aus nur den großen, grauen Torbogen sehen konnte, und wenn die Sommersonne senkrecht herabschien, leuchteten jenseits der Gartenbeete bunte Blumen aus dem gewölbten Rahmen hervor. Erst von der Brücke aus zeigte sich die breite Wand mit den gleichmäßigen Fensterreihen und grünen Läden, und rechts der viereckige Turm, wo der Graben mit dem verwitterten Gemäuer um die Ecke bog.
Weil das alte Haus immer wie halb im Schlaf unter dem überhängenden Dach vor sich niedersah, so blickte man wohl auch dort hinunter und staunte, wie es sich im altersblinden Teich zwischen Schilf und Wasserrosenblättern schräg in die Tiefe schob.
Das alte Gutshaus von Brakenhorst war schwergestaltig und in sich gekehrt. Nur manchmal, in hellen Mondnächten, wenn das dunkle Wasser scheu wurde, blinkerte die graue Wand geradeaus über den Hof, zwischen den Tannen hindurch, mit einem unheimlichen, starren Glanz, wie von ungestorbenen Vergangenheiten.

Um 1600 hatte ein Ahn der Familie Helhusen das Haus gebaut. Die tiefste Stelle des niedren Landes hatte er sich ausgesucht, damit er das Wasser um sich sammeln konnte zu einem breiten, schützenden Graben. Da sollte kein Feind ihn erreichen; er brauchte nur die Zugbrücke hochzunehmen, sich hinter die dicken Mauern zu verziehen, durch die Schießscharten zu feuern - er und seine Leute.
Jetzt war die Zugbrücke längst durch eine feste, steinerne ersetzt worden, und die Schießscharten unterbrachen nur noch wie eine Verzierung das alte Gemäuer, an dem die Feuchtigkeit niederschlug in dunkelgrünen moosigen Streifen.
Aber trotzdem stand Brakenhorst immer noch wie in Verwehrung. Es war, als müßten die kräftigen Winde, die vom Meere kommen, und als müßte der Sonnenschein vom Himmel haltmachen vor der schwarzen Tannenreihe draußen im Hof. Denn nichts aus der weiten Welt hatte Einlaß auf Brakenhorst. So wollte es der Ahn von 1600.
Nur der ernste, langsame Nebel aus den umgrenzenden Wiesen, der schlich abendlich heran über den Weiher und über den Rasen im Park, zwischen den Geranien und Pantoffelblumen hindurch in die offnen Fenster und brachte traurige, schwere Träume mit.
Dann wurden die alten Geschehnisse wach. Denn die alten Geschehnisse haben ein wunderliches Dasein. Sie sind wie die Eulen, die im alten Turme wohnen,
wo die Ketten der steinernen Uhrgewichte rasseln, bevor die Stunden schlagen. Solange der Tag laut und hell vorübergeht, verkriechen sie sich hinter den Deckenbalken, und niemand weiß von ihnen. Nur wenn der alte Könker frische Schaffelle in den Turm hängt, dann kommt es vor, daß er sie aufschreckt. Aber außer ihm weiß niemand, wo sie tagsüber stecken. Erst wenn der Abend kommt - ganz reglos und verschwiegen - dann ist die Stunde der Uhlenflucht. Dann heben sie sich lautlos über die hohen Parkbäume - sehenden Auges durch die Dunkelheit.
Es ist unheimlich, sie so unvermutet durch die große, leere Stille fliegen zu sehen; sie nehmen die Gedanken weit mit fort; und wenn man vom Kolk her den kleinen unsicheren Ruf der Käuzchen hört, muß man an den Tod denken.
Viele Eulen wohnen auf Brakenhorst, denn sie lieben das alte Gemäuer - und die Abende, die reglos sind und verschwiegen. Und die Vergangenheit ist wie die Eulen. Manchmal geschieht es auch ihr, daß sie im Nest aufgestöbert wird, bei hellem Tage, daß sie erschrocken und blind aufflattert.
Einst wurde die alte Eichentreppe aufgerissen, weil das Holz wurmstichig war und oft unter dem gewichtigen Schritt des Herrn ein Stück abbröckelte: Da zog der Geselle von Tischler Brömmelmeyer eine alte gestickte Samtweste unter der einen Stufe hervor; an den Ärmeln hing noch ganz lose ein Nest zerrissener, verstaubter Spitze. Die Weste wurde ausgeschlagen und gebürstet. Da entdeckte man, daß sie voller Blutflecken war. Hauptmann Helhusen zeigte sie Pastor Spengemann aus Harvelinghausen und veranlaßte ihn, das große Kirchenbuch zu studieren, das in der Sakristei an eisernen Ketten lag. Aber das Kirchenbuch reichte nur bis zum Jahre 1700, und den Ahnenbildern in der Eßstube war zu entnehmen, daß solch eine Weste nach 1600 nicht mehr getragen ward. Doch den alten Leuten vom Hofe und von den Arroden fiel wieder die Geschichte ein, die ihre Großeltern erzählt hatten. Die einen sagten, es wäre der Urgroßvater vom Herrn gewesen, die andern meinten, ein früherer Ahn. Was sie von ihm erzählten, lautete auch nicht überein; nur das wußten alle: Er war ein hochfahrender, jähzorniger Mensch; und einmal, so sagte der »olle Vadder Brüning«, als er mit seinen Freunden in Harvelinghausen beim Wein gesessen hatte und ein Kartenspiel nach dem andern gewann, da fing er an zu prahlen, es gäbe nichts auf der Welt, das er sich nicht verschaffen könnte, keinen Reichtum und keine Ehre und kein schönes Mädchen. Einer der Freunde aber nannte höhnisch den Namen des schönsten Mädchens aus dem Kreise - die könnte er nicht mehr bekommen, die hätte gestern den Schmied von Ubbedissen geheiratet. Helhusen schlug in hellem Zorn auf den Tisch: Das wollte er doch mal sehen!, ließ anspannen, fuhr drei Stunden über Land zum Schmied von Ubbedissen und kaufte ihm seine Frau ab für eine große Summe Geldes. Man wußte auch, daß er sie geheiratet hatte; ihr Bild hing zwischen den andern Urgroßmüttern in der Eßstube. Aber was vorgefallen war, als der Schmied nach einem Monat auf den Hof kam, das wußte man nicht; ob die Krankheit des Herrn auf jenen Tag zurückging, denn er soll den Rest seines Lebens gelähmt gewesen sein.
Nun konnte man sich ja denken, was geschehen war; die blutige Weste ließ keinen Zweifel mehr darüber, denn der Schmied von Ubbedissen war ein starker Mann gewesen.
Wenn man die alten Frauen in den Spinnstuben auf die früheren Zeiten bringt, dann lassen sie ihren schweigsamen Faden in die Spule des Spinnrads laufen, und sie schlagen die Hände zusammen und senken den schmalen Kopf mit einem leisen: »O Kinner, Kinner!« Die alten Männer fassen überlegend mit der flachen Hand auf die Stirn: »Stille mal!«, dann erst fangen sie an zu erzählen. Da war vor hundert Jahren der Hauslehrer Dietmar, der eines Morgens tot gefunden wurde zwischen dem Schilf im Mühlenteich. Und es ging eine große Anklage durch die Gegend, weil um das Wasser kein Zaun war; wie leicht konnte man doch in der Dunkelheit vom Wege abkommen, wenn man im Nebel durch die weichen Wegpfützen irrte! Aber es war ja eine helle Vollmondnacht gewesen, als der arme Lehrer ertrank. Den hätte auch kein Zaun gerettet; denn er liebte die Tochter des Herrn, die große blonde Henriette, die so hell lachen konnte; die war stolz und stark und ritt auf einem braunen Pferd über die Heide und war nicht für ihn. Man fand aber im Hausbuch dies Gedicht von ihm geschrieben:
Henrietten, Philippinen!
Laß der Liellien und Jasminen
unbefleckten Silberschein
eine starke Reitzung sein
unbefleckt auch Gott zu dienen,
und zugleich aus reinem Triebe
Deinen Dietmar herzlich liebe.

A
ber es ist lange her, daß solche Dinge geschahen auf Brakenhorst. Es mußte eine ganz andere Zeit gewesen sein, als die Menschen um der Liebe willen Böses taten oder in den Tod gingen. Jetzt war die Liebe verschwiegen auf Brakenhorst. Verschwiegen wurde sie von den Mädchen auf dem Hofe, wenn sie ein sündiges Geheimnis war; denn sie fürchteten sich vorm Pastor. Verschwiegen wurde sie von den hellscheitligen Bauerntöchtern, wenn sie blaß und traurig machte, weil der Vater hart war und seinen Willen über die Liebe setzte. Und verschwiegen wurde die Liebe von der Herrin, weil sie selbst sie vergessen hatte, über dem Unglück, dessen Schuld ihr eigner Mann trug.
Woher aber sollte Anna Helhusen von der Liebe wissen, wenn sie verschwiegen ward auf Brakenhorst?

Zweites Kapitel
Anna - das einzige Kind von Hauptmann Helhusen und seiner Frau Sophie.
Sie hatte nie darüber nachgedacht, daß es anders sein könnte. Für sie blühten die Blumen in der Wiese, für sie lagen die Steine im Bach. Gut, daß sie da war, wer hätte sich sonst um das alles gekümmert, wer außer ihr wußte überhaupt von den Steinen im Bach! Es war auch gar nicht so einfach, dorthin zu gelangen, die Brennesseln versperrten den Weg; aber wenn man unten war, konnte man ja die Finger ins Wasser stecken und kalten Lehm auf die weißen Blasen legen É
Anna Helhusen war ein ernstes stilles Kind. In ihren großen braunen Augen spiegelte oft ein Glanz wie von unverständlichen Dunkelheiten. Was hatte sie doch auch schon alles erlebt! All das Vergangene von Brakenhorst hatte sie miterlebt; traurige böse Geschichten, über die nie gesprochen wurde; aber wenn jemand sie ihr erzählte, später, als sie groß war, dann kamen sie ihr längst bekannt vor, ja, als wüßte sie selbst sie noch viel genauer. So ging es auch mit der Geschichte vom kleinen Bruder, zu dessen Grab sie oft Sonntags mit den Eltern in den Wald ging; wo die Mutter vor sich hin weinte und es so steif und duldend geschehen ließ, wenn Vater ihr die Hand küßte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.01.2006