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Jiddisches Sprichwort

»Ein leerer Bauch hasst lange
Predigten.«

Leitartikel
Israel nach Ariel Scharon

Keine Zeit
für viele
Experimente


Von Oliver Kreth
Noch lebt der mächtigste Mann des Judenstaates am Mittelmeer. Doch dass Ariel Scharon auf die politische Bühne zurückkehrt und dort gar für Furore sorgt, ist nach den Schlaganfällen ausgeschlossen. In Israel hat die Suche nach einem Nachfolger schon begonnen. Viel Zeit für Experimente gibt es nicht. Denn neben gewaltigen Sicherheitsproblemen wie den Terroranschlägen und der iranischen Drohung, Uran weiter anzureichern und damit auch eine Atombombe bauen zu können, muss sich der Nachfolger des Landwirtes aus dem Negev einer weiteren gewaltigen Aufgabe widmen: Israel ist wirtschaftlich angeschlagen.
25 Prozent des Bruttosozialproduktes gehen in den Militärapparat, die Arbeitslosenquote ist nicht nur unter Palästinensern gewaltig. Das Durchschnittseinkommen beträgt 600 Dollar pro Monat. Nicht unbedingt Daten eines Erste-Welt-Landes.
Den selbstbewussten Einwohnern des Landes kann es nicht gefallen, dass sie immer stärker am Tropf der USA hängen - die Klagemauer wirkt am Schabbat wie ein Eheanbahnungsinstitut unter freiem Himmel zwischen Juden aus den Vereinigten Staaten von Amerika und Israel. Das Problem wird sich auf Dauer nur lösen lassen, wenn es endlich zu einer friedlichen Koexistenz zwischen Israelis und Palästinensern kommt. Das hat der Falke Scharon, wenn auch spät, aber doch noch klar erkannt.
Die große Chance für Frieden besteht vor allem in seinen möglichen Erben. Scharon, Itzhak Rabin, Mosche Dayan, Itzhak Schamir, Ehud Barak oder Menachem Begin dominierten in den letzten Jahrzehnten die Politik. Die meisten von ihnen waren Generalstabschefs oder hatten eine paramilitärische Laufbahn hinter sich. Bei Ehud Olmert (nur Offizier der Infanterie/Kadima), Benjamin Netanjahu (Likud/nur sein älterer Bruder Jonatan gilt in Israel als Kriegsheld und kam bei der Operation Entebbe 1976 ums Leben) und auch Amir Peretz (Arbeitspartei) haben keine außergewöhnlichen militärischen Meriten erworben. Und als integer gelten sie bei den Wählern längst nicht mehr. Jerusalems früherer Bürgermeister Olmert und der Politik-Populist Netanjahu wurden schon polizeilich vernommen. Der amtierende Ministerpräsident wurde der Bestechlichkeit beschuldigt, der Ex-Ministerpräsident ist verurteilt.
Der Geheimtipp, nicht nur unter Israels Intellektuellen, auf eine bessere und sicherere Zukunft ist Justizministerin Zipi Livni. Die 1957 Geborene zeichnet sich in den Augen ihrer Anhänger durch Integrität und Durchsetzungsvermögen aus. Der Ex-Leutnant, der einst auch beim Geheimdienst Mossad diente, soll demnächst das Außenministerium leiten. Eine bewährte Zwischenstation auf dem Weg zum Ministerpräsidenten-Stuhl. Im Land der selbstbewussten Frauen wäre sie nach Golda Meir die zweite auf dem Chefsessel der Macht.
Israel braucht schnelle Lösungen, und die Welt schaut gebannt dabei zu, ob der Scharon-Nachfolger ein wenig dem Format des zur Ikone gewordenen David Ben-Gurion nahe kommt.

Artikel vom 19.01.2006