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Angela Merkel

»Grundwerte interpretieren, um in einer globalisierten Gesellschaft Gerechtigkeit umzusetzen.«

Leitartikel
Breite Debatte erwünscht


Werte erst formulieren, dann wiegen


Von Reinhard Brockmann
SPD-Generalsekretär Hubertus Heil sucht sein Heil in der Ankündigung möglichst heiler Verhältnisse. Er »begrüßt«, dass der Koalitionspartner zunehmend sozialdemokratische Themen aufgreift und Slogans wie »Neue Gerechtigkeit« und »Mehr Freiheit wagen«. Dennoch ahnt er Weiterungen dessen, was alle seine Vorgänger als geistigen Diebstahl gegeißelt hätten. Jetzt fehle nur noch die Hinwendung der Union zu der alten SPD-Forderung nach »Solidarität«, meinte Heil gestern mit mehr als einer Spur von hilflosem Sarkasmus.
Auch auf der Unionsseite macht keiner ein Hehl daraus, dass nach dem schlechten Abschneiden im September ein Defizit in Sachen »soziale Gerechtigkeit« bestehe. Angela Merkel, nebenbei auch CDU-Vorsitzende, zwirbelt Sätze wie: »Die Frage ist, wie wir unsere Grundwerte interpretieren müssen, um in einer globalisierten Gesellschaft Gerechtigkeit umzusetzen und Freiheit lebbar zu machen.«
Wohl dem, der Klartext spricht, wie etwa Jürgen Rüttgers gestern vor der evangelischen rheinischen Landessynode. Er fordert eine neue Wertedebatte, die sich auch an Prinzipien jenseits der Ökonomie orientiert.
Rüttgers sehr konkret: Nach dem Ende der postmodernen Beliebigkeit und des Relativismus stelle sich der Gesellschaft zunehmend die Frage, »was uns zusammenhalte«. In Zeiten der Globalisierung, des Verschwindens der Industriegesellschaft und der zunehmenden Alterung brauche jeder Teil der Gesellschaft einen Kompass und die Politik Ordnungsprinzipien, die sich an der Sozialen Marktwirtschaft orientierten.
Respekt, so konkret wird die Politik selten. Fast jeder Ansatz zur Grundwerte-Debatte sorgt wahlweise für Irritation oder Ablehnung. Selten wird deutlich, warum. Aber man stelle sich vor, jemand träte öffentlich für die zehn Gebote oder die Bergpredigt ein. Merkels leise Kritik an Guantanamo zeigt, was Wertepolitik konkret heißt, aber auch, wie beschränkt die Gestaltungsräume verantwortlicher Politiker sind.
Viel öfter hören wir warnende Stimmen, die erklären, worüber alles nicht gesprochen werden darf, bevor überhaupt einer ausgesprochen hat, was er konkret unter christlichem Abendland oder Leitkultur versteht. Warnungen davor, dass Gesinnungen nicht geprüft werden dürfen, klingen dann lauter als die Verständigung darüber, was denn eigentlich eine diesem Land und diesen Menschen wohlgesonnene Haltung ausmacht.
Es ist gut, dass CDU und SPD in diesem Jahr ihre Grundsatzprogramme diskutieren. Noch besser ist, dass die Politik die Grundwertediskussion aufgreift.
Entscheidend aber wäre, dass die Diskussion aus der Gesellschaft heraus geführt wird. Diese Debatte verliefe ideal, wenn die verantwortlichen Politiker lediglich Auftragnehmer wären und wir alle, die Bürger also, durch Kirchen und Gewerkschaften, Sozialverbände und natürlich auch Parteien auf allen Ebenen zum Auftraggeber würde.

Artikel vom 10.01.2006