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Das Spiel und die Künstler
Fußball
philosophischVon Matthias Meyer zur Heyde

Der Countdown läuft: Noch 153 Tage bis zum Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft.

Falls Ihr Sohn gerade in die E-Jugend des örtlichen Fußballclubs eingetreten ist und Sie noch ein Taktiklehrbuch suchen, raten wir von Peter Handkes »Angst des Tormanns beim Elfmeter« dringend ab - statt um Strafstöße geht es da um Mehrfachmord. Außerdem hatte nicht etwa der Torwart »einen grellgelben Pullover an«, wie Handke behauptet, sondern Deutschlands legendärer Außenstürmer Hans-Dietrich Genscher. Falls Ihre Tochter in die E-Jugend eingetreten ist, teilen Sie ihr doch bitte mit, dass Fußball eine »gewalttätige Metapher für die zentralen Atavismen Kampf, Sieg und Nation« ist und - noch böser - »die geregelte Erscheinungsform des Archetyps der Männerhorde« (K.P. Liessmann, Kulturdozent, Wien).
Schau an. Deswegen also ist Frauenfußball so unerträglich. Doch nun zu etwas ganz anderem.
2006! Die Welt zu Gast bei Freunden! Die Freunde sacken den WM-Pokal ein, und die Welt schaut ergriffen zu. So jedenfalls lautet Klinsis Plan, aber da ruft Urs Widmer im Feuilleton an und lyrikt in den Hörer:
»Im WM-Finale:Die Deutschen. Die SchweizZum erstletzten Male.Ein Spiel voller Reize.«
Haarscharf am abab-Schema vorbeigereimt, Urs, sage ich zu Urs, und lottototorennquintettechnisch wären deine Angaben ohnehin wertvoller mit Ergebnis. Weiß ich doch, sagt Urs:
»Die Schweizer gewinnen.Der Kahn kentert. UndKlins denkt, Mann, die spinnen.Der Ballack bleibt rund.«
Aus und vorbei. Deutschland nur Vizeweltmeister! Enttäuscht löse ich mein Schweizer Nummernkonto auf, als ein Kollege aus der Sportredaktion an meinen Schreibtisch tritt und sagt, Matze, sagt er, Hand aufs Herz, haben diese Künstler überhaupt Ahnung von Fußball? Beweis mal, dass nicht.
Okay. »Ein Brausen kommt auf, ein stetiger dunkler Laut der Bedrohung, schwellend aus fernen Lungen. Der Anpfiff ist erfolgt.« Ganz passabel, Siggi, sage ich zu Siegfried Lenz, aber was heißt »ferne Lungen«? Weiltest wohl selbst fern des Stadions. Wenn das mal gutgeht . . . Ernst Huberty ist einst genau deswegen aus der »Sportschau« geflogen.
Na gut, der Ball rollt jetzt. Aber wohin? »In der Fußballmannschaft ist die Aktion jedes Spielers als unbestimmte Möglichkeit durch die Funktion vorbestimmt, und zwar in bezug auf ein zukünftiges Ziel, das nur durch eine organisierte Vielheit technischer Aktivitäten verwirklicht werden kann. Die Funktion in jedem ist also Beziehung zum Ziel als der zu totalisierenden Totalität.« Merci, monsieur, pour l'analyse. Man möchte rufen, ich rufe Jochen Hageleit, aber, ach, es schwätzt nur Sartre.
Frühe Versuche, Künstler an den Fußball heranzuführen, scheiterten, so auch im Falle Vladimir Nabokovs, der sich nach England locken ließ (»Aber nur, wenn ich mir diese Lolita aus euerm Spielerfrauenkatalog bestellen darf!«). Er musste ins Tor - ein Desaster: »Ich war weniger der Hüter eines Tores als der eines Geheimnisses. Während ich mit verschränkten Armen am linken Torpfosten lehnte, genoss ich den Luxus, meine Augen zu schließen, und so lauschte ich dem Pochen meines Herzens, fühlte den blinden Nieselregen auf meinem Gesicht, hörte in der Ferne den gebrochenen Lärm des Spiels und dachte an mich wie an ein sagenhaftes Wesen . . .« usw., usf., ganz gruselig. Vladimir wurde zum Schach abgeschoben, und Lolita heiratete Lothar Matthäus.
La Bohème schwächelt, spottet der Kollege vom Sport und enteilt, um seine Jubelarie auf Deutschlands Auftaktsieg gegen Costa Rica schon mal gedanklich zu strukturieren. Blättern Sie also wieder auf diese Seite, wenn Sie Genscher sagen hören: »Es schwellen die fernen Lungen der Welt vor dem deutschen Sturm, aber wo, zum Donnerwetter, ist mein grellgelber Pulli hin?«

Artikel vom 07.01.2006