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Er riß es ihr aus den Händen.

»Hör auf, Camille. Hör auf damit. Hör auf, dich hinter diesem Scheißheft zu verstecken. Hör auf. Ein einziges Mal wenigstens, bitte.«
Sie betrachtete die Theke.
»He! Ich rede mit dir!«
Sie betrachtete sein T-Shirt.
»Nein, mich. Sieh mich an.«
Sie sah ihn an.
»Warum sagst du nicht einfach: ÝIch will nicht, daß du gehstÜ? Ich bin wie du. Mir ist das Geld scheißegal, wenn ich es für mich allein ausgeben soll. Ich... Ich weiß nicht, verdammt! ÝIch will nicht, daß du gehstÜ, das kann doch nicht so schwer sein, oder?«
»Ichabsdirschngesagt.«
»Was?«
»Ich habÕs dir schon gesagt.«
»Wann?«
»Am 31. Dezember.«
»Jaaa, aber das zählt nicht. Das war wegen Philou.«
Stille.

»Camille?«
Er artikulierte deutlich:
»Ich... will... nicht... daß... du... gehst.«
»Ich...«
»Gut so, weiter... Will...«
»Ich habe Angst.«
»Wovor?«
»Vor dir, vor mir, vor allem.«

Er seufzte.
Und seufzte noch einmal.

»Schau her. MachÕs wie ich.«
Er baute sich auf wie ein Bodybuilder bei einem Schönheitswettbewerb.
»Ball die Hände zur Faust, mach den Rücken rund, winkle die Arme an, verschränke sie und halte sie unters Kinn. So.«
»Warum?« fragte sie verwundert.
»Weil. Du mußt deine Haut sprengen, die ist zu klein für dich. Siehst du. Du erstickst darunter. Du mußt da endlich raus. Komm schon. Ich will hören, wie die Naht auf deinem Rücken platzt.«

Sie lächelte.
»Scheiße, nee. BehaltÕs für dich, dein blödes Lächeln. Ich will es nicht. Das ist es nicht, was ich von dir will! Ich will, daß du lebst, verdammt noch mal! Nicht daß du mich anlächelst! Dafür gibt es die Damen von der Wettervorhersage. Okay, ich muß los, sonst reg ich mich nur auf. Bis heut abend dann.«



21. Kapitel
Camille grub sich inmitten von Suzys fünfzigtausend buntbemalten Kissen eine Höhle, rührte ihr Essen nicht an und trank genug, um an den richtigen Stellen lachen zu können.
Auch ohne Dias durften sie eine Quizsendung über sich ergehen lassen.
»Aragonien oder Kastilien«, präzisierte Philibert.
»... sind die Brustdrüsen des Schicksals!« wiederholte sie bei jedem Foto.
Sie war fröhlich.
Traurig und fröhlich.

Franck ging recht bald, weil er mit den Kollegen von seinem Franzosenleben Abschied nehmen wollte.

Als Camille sich endlich erhob, begleitete Philibert sie bis auf die Straße.
»Meinst du, es wird gehen?«
»Ja.«
»Soll ich dir ein Taxi rufen?«
»Nein, danke. Ich laufe lieber.«
»Na dann, einen schönen Spaziergang.«

»Camille?«
»Ja?«
Sie drehte sich um.
»Morgen... Siebzehn Uhr fünfzehn am Gare du Nord.«
»Kommst du?«
Er schüttelte den Kopf.
»Leider nein. Ich muß arbeiten.«

»Camille?«
Sie drehte sich noch einmal um.
»Aber du. Geh du hin für mich. Bitte.«



22. Kapitel
Bist du gekommen, um mit deinem Taschentuch zu wedeln?«
»Ja.«
»Das ist nett.«
»Wie viele sind wir denn?«
»Wer?«
»Frauen, die mit ihren Taschentüchern winken und dich mit Lippenstift beschmieren?«
»Tja, sieh dich um.«
»Nur ich?!«
»Na ja«, er verzog das Gesicht, »harte Zeiten. Zum Glück sind die Engländerinnen heiß. Das hat man mir jedenfalls erzählt!«
»Bringst du ihnen den French Kiss bei?«
»Unter anderem. Kommst du noch mit auf den Bahnsteig?«
»Ja.«

Er sah auf die Bahnhofsuhr:
»Gut. Dir bleiben nur noch fünf Minuten, um einen Satz mit sechs Wörtern auszusprechen, das dürfte doch machbar sein, oder? Komm schon«, gab er sich entrüstet, »wenn es zu viele sind, mir reichen zwei. Aber die richtigen, hem? Scheiße! Ich hab meine Fahrkarte noch nicht abgestempelt. Und?«
Stille.
»Dann eben nicht. Bleib ich halt ein Frosch.«

Er schulterte seine große Tasche und wandte ihr den Rücken zu.
Er rannte, um einen Schaffner zu erwischen.
Sie sah, wie er seine Fahrkarte wieder an sich nahm und ihr mit der Hand ein Zeichen machte.

Und der Eurostar entglitt ihren Fingern.
Und sie fing an zu weinen, die dumme Gans.
Und sie sah nur noch einen kleinen grauen Punkt in der Ferne.


Ihr Handy klingelte.
»Ich binÕs.«
»Ich weiß, das wird angezeigt.«
»Bestimmt erlebst du gerade eine hyperromantische Szene. Bestimmt stehst du allein auf dem Bahnsteig, wie in einem Film, und heulst deiner Liebe nach, die sich in einer weißen Rauchwolke verliert.«
Sie lächelte unter Tränen.
»Ü... Überhaupt nicht«, brachte sie heraus, »ich... ich wollte gerade den Bahnhof verlassen.«

»Du Lügnerin«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Sie fiel ihm in die Arme und drückte ihn fest fest fest fest.
Bis die Naht platzte.

Sie weinte.

Öffnete die Schleusentore, schneuzte sich in sein Hemd, heulte noch mehr, entließ siebenundzwanzig Jahre Einsamkeit, Kummer, gemeine Schläge auf den Kopf, beweinte die Liebkosungen, die sie nie bekommen hatte, den Wahnsinn ihrer Mutter, die auf dem Teppich knienden Feuerwehrleute, die Zerstreutheit ihres Papas, die Schinderei, die Jahre ohne auch nur die geringste Atempause, die Kälte, die Freude am Hunger, die Entgleisungen, den Verrat an sich selbst und den ewigen Schwindel, den Schwindel am Rande des Abgrunds und den Flaschenhals. Und die Zweifel und ihren Körper, der immer ausscherte, und den Geschmack von Äther und die Angst, nicht mithalten zu können. Und auch Paulette. Paulettes Sanftmut, pulverisiert in fünfeinhalb Sekunden.


Er hatte ihr seine Jacke umgehängt und sein Kinn auf ihren Kopf gelegt.
»Komm schon«, flüsterte er ganz sanft, ohne zu wissen, ob es heißen sollte, komm schon, wein dich aus, oder, komm schon, nicht weinen.

Ganz wie sie wollte.

Ihre Haare kitzelten ihn, er war voller Rotz und sehr glücklich.
Sehr glücklich.
Er lächelte. Zum ersten Mal im Leben war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort.


Er rieb sein Kinn auf ihrem Kopf.
»Komm schon, mein Schatz. Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das. Wir werden es nicht besser machen als die anderen, aber auch nicht schlechter. Wir schaffen das, glaub mir. Wir schaffen das. Wir haben nichts zu verlieren, weil wir nichts haben. Komm.«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 20.01.2006