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Die alte Frau hatte sich ein-, zweimal gehenlassen, und sie hatte ausgiebig mit ihr geschimpft:
»Oh, nein, liebe Paulette, alles, was Sie wollen, aber das nicht! Ich bin ganz für Sie da! Sagen Sie mir Bescheid! Bleiben Sie bei mir, Herrgott noch mal! Was soll das denn, in die Hose zu kacken? Sie sind doch nicht in einem Käfig eingesperrt?«
»...«
»He! Ho! Paulette! Antworten Sie mir. Werden Sie jetzt auch noch taub?«
»Ich wollte dich nicht bemühen.«
»Lügnerin! Sie wollten sich nicht bemühen!«
Den Rest der Zeit gärtnerte, bastelte, arbeitete sie, dachte an Franck und las - endlich - Das Alexandria-Quartett. Laut zuweilen. Um sie einzustimmen. Dazu erzählte sie ihr außerdem Opernhandlungen.
»Hören Sie, das hier ist wunderschön. Rodrigo schlägt seinem Freund vor, zusammen mit ihm im Krieg zu sterben, damit er vergißt, daß er in Elisabeth verliebt ist.
Moment, ich stell es mal etwas lauter. Hören Sie das Duett, Paulette? Dio, che nellÕalma infondere«, trällerte sie und machte ihr Handgelenk geschmeidig, na ninana ninana.
»Schön ist das, oder?«
Sie war eingeschlafen.

Franck kam am Wochenende nicht, aber sie erhielten Besuch von den beiden Unzertrennlichen, Monsieur und Madame Marquet.

Suzy hatte ihr Yogakissen in die Gräser gelegt, und Philibert las in einem Liegestuhl Reiseführer über Spanien, wohin sie in der nächsten Woche auf Hochzeitsreise wollten.
»Zu Juan Carlos. Meinem angeheirateten Cousin.«
»Das hätte ich mir ja denken können«, lächelte Camille.
»Aber... Und Franck? Ist er nicht da?«
»Nein.«
»Mit dem Motorrad unterwegs?«
»Keine Ahnung.«
»Willst du damit sagen, daß er in Paris geblieben ist?«
»Das denke ich mir.«
»Ach, Camille«, er war bekümmert.
»Was, Camille?« regte sie sich auf. »Was denn? Du selbst hast mir doch schon ganz zu Anfang gesagt, wie unmöglich er ist. Daß er noch nie was anderes gelesen hat als die Kleinanzeigen in seinen Motorradheften, daß... daß...«
»Schhh. Beruhige dich. Ich mache dir ja keine Vorwürfe.«
»Nein, schlimmer.«
»Ihr habt so glücklich ausgesehen.«
»Ja. Genau deswegen. Belassen wir es dabei. Machen wir nicht alles kaputt.«
»Glaubst du denn, es ist wie bei deinen Stiften? Glaubst du, daß sie sich bei Gebrauch abnutzen?«
»Was denn?«
»Die Gefühle?«

»Wann hast du das letzte Mal ein Selbstporträt gemacht?«
»Warum fragst du?«
»Wann?«
»Lange her.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Das hat damit nichts zu tun.«
»Nein, natürlich nicht.«

»Camille?«
»Mmm.«
»Am 1. Oktober um acht Uhr morgens.«
»Ja?«
Er reichte ihr den Brief von Herrn Buzot, Notar in Paris.

Camille las ihn, gab ihn zurück und legte sich zu seinen Füßen ins Gras.

»Pardon?«
»Es war zu schön, um von Dauer zu sein.«
»Es tut mir leid.«
»Hör auf.«
»Suzy liest die Anzeigen in unserem Viertel. Dort ist es nicht schlecht, weißt du? Es ist... es ist pittoresk, wie mein Vater sagen würde.«
»Hör auf. Und Franck, weiß er Bescheid?«
»Noch nicht.«

Er kündigte sich für die darauffolgende Woche an.
»Fehl ich dir so?« schäkerte Camille am Telefon.
»Nee. Ich muß was an meinem Motorrad machen. Hat Philibert dir den Brief gezeigt?«
»Ja.«
»...«
»Denkst du an Paulette?«
»Ja.«
»Ich auch.«
»Wir haben Jojo mit ihr gespielt. Wir hätten sie besser da gelassen, wo sie war.«
»Meinst du das ernst?« fragte Camille.
»Nein.«

13. Kapitel
Die Woche verging.

Camille wusch sich die Hände und kehrte in den Garten zurück, wo Paulette in ihrem Rollstuhl saß und sich sonnte.
Sie hatte eine Quiche gemacht. Vielmehr eine Art Mürbeteig mit ausgelassenem Speck. Vielmehr etwas zu essen.

Wie ein Heimchen, das auf seinen Mann wartet.

Sie lag schon wieder auf den Knien und grub in der Erde, als ihre alte Kameradin hinter ihr flüsterte:
»Ich habe ihn umgebracht.«
»Pardon?«
Mist.
In letzter Zeit redete sie immer mehr Stuß.

»Maurice, meinen Mann. Ich habe ihn umgebracht.«

Camille richtete sich auf, drehte sich jedoch nicht um.

»Ich war in der Küche, auf der Suche nach meinem Portemonnaie, um Brot zu holen, als ich... ihn habe fallen sehen. Er war schwer herzkrank, weißt du. Er röchelte, er stöhnte, sein Gesicht war... Ich... ich habe meine Jacke übergezogen und bin gegangen.
Ich habe mir ganz viel Zeit gelassen, bin vor jedem Haus stehengeblieben. Und wie gehtÕs dem Kleinen? Und dem Rheuma? Besser? Ein Gewitter im Anzug, haben Sie gesehen? Ich, die ich nicht sehr gesprächig bin, war an diesem Morgen äußerst liebenswürdig. Und das schlimmste ist, ich habe auch noch einen Lottoschein ausgefüllt. Kannst du dir das vorstellen? Als wäre es mein Glückstag. Gut, und dann. Dann bin ich doch nach Hause gegangen, und er war tot.«
Stille.
»Ich habe meinen Lottoschein weggeworfen, weil ich nie die Unverfrorenheit besessen hätte, die Gewinnzahlen abzugleichen, und habe die Feuerwehr angerufen. Oder die Sanitäter. Ich weiß nicht mehr. Aber es war zu spät. Ich hatte es gewußt.«
Stille.
»Du sagst gar nichts?«
»Nein.«
»Warum sagst du nichts?«
»Weil ich denke, daß seine Zeit gekommen war.«
»Meinst du?« fragte sie flehentlich.
»Da bin ich ganz sicher. Ein Herzinfarkt ist ein Herzinfarkt. Sie haben mir einmal gesagt, er habe fünfzehn Jahre Gnadenfrist gehabt. Tja, die hat er bekommen.«
Und um ihr zu zeigen, wie ehrlich sie es meinte, machte sie sich wieder an die Arbeit, als sei nichts gewesen.
»Camille?«
»Ja?«
»Danke.«
Als sie sich gut eine halbe Stunde später wieder aufrichtete, lächelte Paulette im Schlaf.
Sie holte ihr eine Decke.

Dann drehte sie sich eine Zigarette.
Dann säuberte sie sich mit einem Streichholz die Fingernägel.
Dann sah sie nach ihrer »Quiche«.
Dann putzte sie drei kleine Salatköpfe und etwas Schnittlauch.
Dann wusch sie alles.
Dann schenkte sie sich ein Glas Weißwein ein.
Dann ging sie unter die Dusche.
Dann zog sie sich einen Pullover über und ging wieder in den Garten.
Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter:
»Sie werden sich erkälten, Paulette.«
Sie schüttelte sie sanft:
»Paulette?«

Noch nie war ihr ein Bild so schwergefallen.
Sie machte nur eins.
Das Allerschönste vielleicht.

14. Kapitel
Es war schon nach eins, als Franck das ganze Dorf weckte.

Camille war in der Küche.

»Schon wieder am Picheln?«

Er legte seine Jacke auf einen Stuhl und holte sich ein Glas aus dem Schrank über seinem Kopf.
»Bleib sitzen.«

Er setzte sich ihr gegenüber:
»Ist sie schon im Bett, meine Omi?«
»Sie ist im Garten.«
»Im Gar...«
Und als Camille aufsah, wurde er bleich.
»Oh nein, verdammt! Nein!«


15. Kapitel
Und die Musik? Haben Sie bestimmte Vorlieben?«
Franck drehte sich zu Camille.
Sie weinte.
»Du suchst uns was Schönes aus, oder?«
Sie nickte.
»Und die Urne? Haben... Sie sich die Preisliste angeschaut?«


16. Kapitel
Camille hatte nicht die Kraft, in die Stadt zurückzufahren, um die richtige CD zu suchen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie sie finden würde. Und außerdem fehlte ihr dazu die Kraft.

Sie holte die Kassette, die noch im Autoradio steckte, und hielt sie dem Herrn vom Krematorium hin.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.01.2006