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Ganz ruhig, ganz ruhig! Ich würde dich gern sehen! Würdest du vor all den fremden Leuten hier auftreten?«

Zuerst waren die Kinder an der Reihe. Etwas Molière, etwas Queneau, etwas kleiner Prinz und etwas geheimnisvolle Rue Broca, das volle Programm.

Camille konnte sie nicht malen, sie mußte zu sehr lachen.

Danach leierte eine Gruppe schlaksiger Jugendlicher, ein Experiment zur Wiedereingliederung, ihren Existentialismus herunter und schüttelte schwere vergoldete Ketten.
»Du meine Güte, was haben die denn auf dem Kopf?« fragte Franck beunruhigt. »Strumpfhosen?«

Pause.
Warme Fanta und immer noch kein Philibert am Horizont.

Als es wieder dunkel wurde, trat ein ziemlich flippiges Mädchen auf die Bühne.
Sie ragte kaum über die Tischkante, trug aber rosa Converses im New Look, buntgestreifte Strumpfhosen, einen Minirock aus grünem Tüll und eine perlenbesetzte Fliegerjacke. Die Haarfarbe passend zu den Schuhen.

Eine Elfe. Eine Handvoll Konfetti. Von der Art rührender Spinner, die man auf Anhieb mag oder überhaupt nie verstehen wird.
Camille beugte sich vor und sah Franck selig grinsen.

»Guten Abend. Also hm. Tja. Ich... Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Ihnen die... die nächste Nummer präsentieren soll, und schließlich habe ich... habe ich mir überlegt, daß... daß es am besten ist, wenn... wenn ich Ihnen von unserer ersten Begegnung erzähle.«
»Oh oh, noch eine, die stottert. Das ist ein Fall für uns«, flüsterte er.
»Also hm. Es war vor einem Jahr ungefähr.«
Sie wirbelte mit den Armen wild durch die Luft.
»Sie müssen wissen, ich leite ein Kinderatelier in Beaubourg und hm. Er ist mir aufgefallen, weil er ständig um seine Drehständer herumschlich, um immer wieder seine Postkarten zu zählen. Jedesmal, wenn ich vorbeiging, habe ich versucht, ihn zu überraschen, und es hat jedesmal geklappt: Er zählte schon wieder stöhnend seine Karten. Wie... Wie Chaplin, verstehen Sie? Mit dieser Art von Anmut, die einem die Kehle zuschnürt. Wo man nicht mehr weiß, ob man lachen oder weinen soll. Wo man überhaupt nichts mehr weiß. Wo man einfach stehenbleibt, völlig idiotisch, mit einem süßsauren Geschmack im Mund. Einmal habe ich ihm dann geholfen, und ich... ich habe ihn ins Herz geschlossen. Das wird Ihnen bestimmt genauso gehen, sie werden sehen. Man kann einfach nicht anders, als ihn ins Herz zu schließen. Diesen Kerl. Er ist wie alle Lichter dieser Stadt in einem.«
Camille zerquetschte Franck die Hand.
»Ach ja! Und noch etwas. Als er sich mir das erste Mal vorstellte, sagte er: ÝPhilippe de la DurbellièreÜ, worauf ich ihm, höflich wie ich bin, genauso geantwortet habe, mitsamt geographischer Angabe: ÝSuzy... hm... de BellevilleÜ. ÝAh!Ü rief er aus, ÝSie sind eine Nachfahrin von Geoffroy de Lajemme de Belleville, der 1672 die Habsburger bekämpfte.Ü Oh Mann! ÝNeeÜ, hab ich gestammelt, Ýaus... aus Belleville in Paris.Ü Und wissen Sie, was das schlimmste war? Er war nicht mal enttäuscht.«

Sie machte einen Sprung.

»So, das warÕs, jetzt ist alles gesagt. Ich bitte Sie nun um anhaltenden Applaus.«
Franck pfiff auf den Fingern.

Philibert schleppte sich schwerfällig auf die Bühne. In Rüstung. Mit Kettenhemd, Federbusch, langem Schwert, Schild und jede Menge Eisenkram.

Schaudern beim Publikum.

Er fing an zu reden, aber man konnte ihn nicht verstehen.
Nach ein paar Minuten kam ein Junge mit einem Schemel auf die Bühne und schob das Visier in die Höhe.
Jetzt konnte man ihn, der unerschütterlich weitersprach, endlich hören.
Vorsichtiges Gelächter.
Noch wußte keiner, ob es Absicht war oder nicht.

Nun begann Philibert einen genialen Striptease. Jedesmal, wenn er ein Stück Eisen auszog, benannte es sein kleiner Page mit lauter Stimme:
»Der Helm... die Sturmhaube... die Halsberge... der Brechrand... der Brustharnisch... der Bauchreifen... die Armkachel... der Panzerhandschuh... der Diechling... der Kniebuckel... die Beinröhre...«

Vollkommen entbeint, sackte der Ritter schließlich in sich zusammen, und der Junge zog ihm die »Schuhe« aus.
»Die Bärlatschen«, verkündete er schließlich, indem er sie über seinen Kopf hob und sich die Nase zuhielt.
Echtes Gelächter diesmal.
Nichts ist besser als ein derber Gag, um einen Saal in Schwung zu bringen.

Unterdessen breitete Philibert Jehan Louis-Marie Georges Marquet de la Durbellière mit monotoner und blasierter Stimme die Äste seines Stammbaums aus und rühmte die kriegerischen Heldentaten seines noblen Geschlechts.

Sein Urahne Karl mit Ludwig dem Heiligen gegen die Türken 1271, sein Ahne Bertrand in der Klemme in Azincourt 1415, sein Onkel Bidule bei der Schlacht von Fontenoy, sein Opa Ludwig auf der Uferböschung des Moine in Cholet, sein Großonkel Maximilian an der Seite Napoleons, sein Urgroßvater auf dem Chemin des Dames und sein Großvater mütterlicherseits Gefangener der Deutschen in Pommern.
Mit unendlichen Details. Die Bälger waren mucksmäuschenstill. Französische Geschichte in 3D. Große Kunst.

»Und das letzte Blatt am Baum«, schloß er, »steht hier vor Ihnen.«


Er stand wieder auf. Weißhäutig und hager, nur mit einer Unterhose bekleidet, die mit Lilien bedruckt war.
»Ich bin der Kerl, wissen Sie? Der immer seine Postkarten zählt.«

Sein Page brachte ihm einen Soldatenmantel.
»Warum?« fragte er sie. »Warum zum Teufel zählt der Nachkomme eines solchen Konvois wieder und wieder Papierfetzen an einem Ort, den er verabscheut? Nun, das will ich Ihnen sagen.«

Und jetzt drehte der Wind. Er erzählte von seiner chaotischen Geburt, bei der er sich verkehrt angestellt hatte, »damals schon«, seufzte er, und seine Mutter sich weigerte, in ein Krankenhaus zu gehen, in dem auch Abtreibungen vorgenommen wurden. Er erzählte von seiner Kindheit, abgeschnitten von der Welt, in der man ihm beibrachte, gegenüber den einfachen Leuten den nötigen Abstand zu wahren. Er erzählte von seinen Jahren im Pensionat mit seinem Gaffiot als Speerspitze und den unzähligen Gemeinheiten, denen er ausgesetzt war, er, der über Kräfteverhältnisse nicht mehr wußte, als ihm die langsamen Bewegungen seiner Bleisoldaten gezeigt hatten.
Und die Leute lachten.

Sie lachten, weil es witzig war. Das Glas mit der Pisse, die Sticheleien, die Brille, die ins Klo flog, die Aufforderungen zum Masturbieren, die Grausamkeit der Bauernsöhne aus der Vendée und der fragwürdige Trost des Betreuers. Die weiße Taube, die langen Abendgebete, um denen zu vergeben, die einem weh getan hatten, und sich nicht in Versuchung führen zu lassen, und sein Vater, der ihn jeden Samstag fragte, ob er sich seines Standes würdig erwiesen und seinen Vorfahren Ehre gemacht habe, während er hin- und herrutschte, weil sie ihm wieder einmal den Schwanz mit Schmierseife eingerieben hatten.

Ja, die Leute lachten. Weil auch er darüber lachte und weil man von nun an zu ihm hielt.
Alles Prinzen.
Alle hinter seinem weißen Federbusch.
Alle bewegt.

Er erzählte von seinen Zwangsvorstellungen und Obsessionen. Seinen Psychopharmaka, seinen Krankenscheinen, auf die sein Name nie ganz paßte, seinem Stottern, seiner Verwirrung, wenn sich seine Zunge verhedderte, seinen Panikattacken an öffentlichen Orten, seinen Zähnen, denen der Nerv gezogen wurde, seinem gelichteten Schopf, seinem schon leicht gekrümmten Rücken und allem, was er unterwegs verloren hatte, weil er in einem anderen Jahrhundert auf die Welt gekommen war. Aufgewachsen ohne Fernsehen, ohne Zeitungen, ohne Ausgang, ohne Humor und vor allem ohne das geringste Wohlwollen für die Welt um ihn herum.

Er erteilte Anstandsunterricht, Benimmregeln, rief gute Manieren in Erinnerung und die Sitten und Gebräuche dieser Welt, wozu er das Handbuch seiner Großmutter auswendig aufsagte:
»Generöse und feinfühlige Gemüter befleißigen sich in Anwesenheit des Gesindes niemals eines Vergleichs, der selbiges herabsetzen könnte. Zum Beispiel: ÝSoundso benimmt sich wie ein Lakai.Ü Die Grandes Dames der damaligen Zeit zeugten nicht gerade von derartiger Sensibilität, werden Sie sagen, und ich weiß, daß eine Herzogin aus dem 18. Jahrhundert in der Tat ihre Leute bei jeder Hinrichtung mit den Worten zur Place de Gréve zu schicken pflegte: ÝIn die Schule mit euch!Ü
Heute achten wir die Würde des Menschen und die berechtigte Empfindsamkeit der kleinen und einfachen Leute weitaus mehr. Dies gereicht unserer Zeit zur Ehre.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.01.2006