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Franck seufzte:
»Ich seh schon. Das ist Philou in Hochkonzentrat. Gut. Du wartest aber nicht bis zum Vortag, um uns einzuladen? Damit ich wenigstens noch Zeit habe, mir einen schönen Anzug zu kaufen.«
»Und ich ein Kleid!« fügte Camille hinzu.
»Und ich einen Hut«, kam es von Paulette.

9. Kapitel
Die Kesslers kamen eines Abends zum Essen. Schweigend gingen sie durch die ganze Wohnung. Zwei alte Bourgeois, völlig baff. Ehrlich gesagt, ein äußerst genußreiches Spektakel.
Franck war nicht da und Philibert absolut charmant.

Camille zeigte ihnen ihr Atelier. Paulette fand sich dort in allen Positionen, allen Techniken, allen Formaten. Ein Tempel ihrer Fröhlichkeit, ihrer Liebenswürdigkeit, der Gewissensbisse und Erinnerungen, die ihr bisweilen das Gesicht zerfurchten.

Mathilde war verwirrt und Pierre zuversichtlich:
»Das ist gut! Das ist sehr gut! Bei der Gluthitze des vergangenen Sommers ist das Alte total im Trend, weißt du? Das kommt gut an. Da bin ich mir ganz sicher.«
Camille war verzagt. Ver-zagt.

»Hör auf«, sagte seine Frau, »das ist eine Provokation. Er ist ganz ergriffen, der Gute.«
»Oh! Und das hier! Das ist phantastisch!«
»Das ist noch nicht fertig.«
»Das hebst du mir auf, ja? Das reservierst du für mich?«
Camille willigte ein.

Nein. Das würde sie ihm niemals geben, weil es niemals fertig würde, denn ihr Modell käme nie mehr wieder. Das wußte sie.
Schade.
Um so besser.
Diese Skizze würde sie also niemals weggeben. Sie war nicht fertig. Sie würde in der Luft hängen. Wie ihre unmögliche Freundschaft. Wie alles, was sie hier unten trennte.
Es war an einem Samstagmorgen gewesen, vor wenigen Wochen. Camille arbeitete. Sie hatte nicht einmal die Klingel gehört, als Philibert an ihre Tür klopfte:
»Camille?«
»Ja?«
»Die... Die Königin von Saba ist hier. In meinem Salon.«

Mamadou sah prachtvoll aus. Sie trug ihre schönste Tunika und all ihren Schmuck. Ihre Haare waren bis auf zwei Drittel ihres Kopfes gezupft, und sie trug ein kleines Schultertuch, passend zum Hüfttuch.
»Ich hatte dir gesagt, daß ich komme, aber du mußt dich beeilen, weil ich um vier zu einer Familienhochzeit muß. Hier wohnst du also? Hier arbeitest du?«
»Ich bin so glücklich, dich wiederzusehen!«
»Los. Keine Zeit verlieren, hab ich gesagt.«

Camille setzte sie bequem hin.
»So. Halt dich gerade.«
»Aber ich halte mich immer gerade, sowieso!«

Nach ein paar Skizzen legte sie ihren Stift auf den Block:
»Ich kann dich nicht malen, wenn ich nicht weiß, wie du heißt.«
Daraufhin nahm die andere den Kopf hoch und hielt ihrem Blick mit wunderbarer Verachtung stand:
»Mein Name ist Marie-Anastasie Bamundela MÕBayé.«

Marie-Anastasie Bamundela MÕBayé würde nie wieder als Königin von Diouloulou, dem Dorf ihrer Kindheit, in dieses Viertel zurückkehren. Da war sich Camille ganz sicher. Ihr Porträt würde niemals fertig werden, und es wäre niemals für Pierre Kessler, der absolut außerstande war, die kleine Bouli in den Armen dieser »schönen Negerin« zu erkennen.

Abgesehen von diesen beiden Besuchen und einer Fete zum dreißigsten Geburtstag eines Kollegen von Franck, zu der sie alle drei gingen und auf der Camille völlig losgelöst brüllte: Ich hab mehr Hunger als ein Barrakuda, Ba ra ku daaaa, ereignete sich nichts Nennenswertes.

Die Tage wurden länger, der Sunrise drehte auf der Stelle, Philibert probte, Camille arbeitete, und Franck büßte mit jedem Tag ein wenig mehr Selbstvertrauen ein. Sie mochte ihn, aber sie liebte ihn nicht, sie bot sich an, gab sich jedoch nicht hin, versuchte es zwar, glaubte aber nicht daran.

Eines Abends schlief er auswärts. Zum Testen.
Sie sagte nichts dazu.
Dann ein zweites, ein drittes Mal. Zum Trinken.
Er schlief bei Kermadec. Die meiste Zeit allein, einen Abend in belgischem Himbeerbierrausch mit einem Mädchen.
Er gab ihr, was sie wollte, und wandte ihr dann den Rücken zu.
»Und jetzt?«
»Laß mich.«

10. Kapitel
Paulette lief nun fast gar nicht mehr, und Camille vermied es, Fragen zu stellen. Sie hielt sie anderweitig fest. Im Tageslicht oder im Schein der Lampen. An manchen Tagen war sie nicht ganz da, an anderen voller Schwung. Es war ermüdend.
Wo hörte der Respekt für andere auf, und wo begann die unterlassene Hilfeleistung gegenüber einem gefährdeten Menschen? Diese Frage nagte an ihr, und jedesmal, wenn sie nachts aufstand, wild entschlossen, einen Arzttermin zu vereinbaren, wachte die alte Dame am nächsten Morgen fidel und frisch wie eine Rose wieder auf.

Und Franck, dem es nicht mehr gelang, einer früheren Eroberung aus der Laborszene die Medikamente ohne Rezept zu entlocken.
Sie nahm seit Wochen nichts mehr ein.

An Philiberts Theaterabend, zum Beispiel, war sie nicht auf dem Damm, und sie mußten Madame Perreira bitten, bei ihr zu bleiben.
»Kein Problem! Ich hatte zwölf Jahre lang meine Schwiegermutter im Haus, ich bin in Übung. Ich weiß, wie das ist mit den alten Leuten!«

Die Aufführung fand in einem Kulturzentrum am Ende der Linie A der RER statt.
Sie nahmen den Zeus um 19.34 Uhr, setzten sich einander gegenüber und fochten schweigend ihre Kämpfe aus.

Camille sah Franck lächelnd an.


Das kannst du gern für dich behalten, dein blödes Lächeln, ich will es gar nicht haben. Sonst hast du ja nichts zu vergeben. Nur ein Lächeln, um die Leute durcheinanderzubringen. BehaltÕs für dich. Komm schon, behaltÕs für dich. Irgendwann endest du mit deinen Farbstiften allein in einem Bergfried, und das geschieht dir ganz recht. Ich merke, wie ich es langsam satt habe. Der Regenwurm, der sich in einen Stern verliebt, eine Zeitlang mag das ja gutgehen.

Franck betrachtete Camille mit zusammengebissenen Zähnen.

Was bist du süß, wenn du wütend bist. Was bist du schön, wenn du mit deinem Latein am Ende bist. Warum kann ich mich bei dir nicht gehenlassen? Warum lasse ich dich leiden? Warum trage ich ein Korsett unter meinem Harnisch und zwei Patronengürtel? Warum mache ich bei der geringsten Kleinigkeit dicht? Nimm einen Dosenöffner! Sieh in deinem Köfferchen nach, ich bin sicher, du hast, was du brauchst, um mich atmen zu lassen.

»Woran denkst du?« fragte er sie.
»An deinen Namen. Ich habe kürzlich in einem alten Wörterbuch gelesen, daß der estafier ein Oberknappe war, der einen Reiter begleitete und ihm den Steigbügel hielt.«
»Tatsächlich?«
»Ja.«
»Ein Diener also?«

»Franck Lestafier, der Diener?«
»Hier!«
»Wenn du nicht mit mir schläfst, mit wem schläfst du dann?«
»...«
»Machst du mit den anderen das gleiche wie mit mir?« fragte sie weiter und biß sich auf die Lippen.
»Nein.«


Sie gaben sich die Hand und tauchten gemeinsam wieder auf.
Die Hand ist nicht schlecht.
Sie bringt keine Verpflichtung mit sich für den, der sie gibt, und beruhigt den, der sie nimmt.

Der Ort hatte etwas Freudloses an sich.
Es roch nach Kinnbärtchen, nach warmer Fanta und unausgegorenen Träumen von Ruhm. Plakate in Quietschgelb kündigten die triumphale Tournee des Ramon Riobambo und seines Orchesters in Lamafellen an. Franck und Camille kauften ihre Eintrittskarten und hatten die Qual der Wahl des Sitzplatzes.

Doch langsam füllte sich der Saal. Die Stimmung eine Mischung aus Kirmes und Jugendfreizeit. Die Mamas hatten sich herausgeputzt, die Papas überprüften noch mal die Batterien ihrer Camcorder.
Wie immer, wenn er nervös war, wippte Franck mit dem Fuß. Camille legte ihm die Hand aufs Knie, um ihn zu beruhigen.
»Wenn ich daran denke, daß unser Philou allein vor diesen ganzen Leuten stehen wird, macht mich das völlig fertig. Ich glaub, das verkraft ich nicht. Stell dir vor, er bleibt hängen. Stell dir vor, er fängt an zu stottern. Pff. Hinterher müssen wir ihn mit dem Löffel vom Boden aufkratzen.«
»Es wird schon alles gutgehen.«
»Wenn hier auch nur einer kichert, dann knöpf ich ihn mir vor, das sag ich dir.«
»Ganz ruhig.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.01.2006