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Er hätte es nie geglaubt. Er, der Picklige mit den großen Füßen und der Bronzepfanne über dem Kopf. Nein, das war nicht vorauszusehen gewesen.

Ja, das Leben war eine seltsame Köchin. Jahrelang im Kühlraum und dann hop! von einem Tag auf den anderen auf den Bratrost mit dir!
»Woran denkst du?« fragte Camille.
»Nichts. Nur dummes Zeug. Alles in Ordnung mit dir?«
»Ich kann nicht glauben, daß du hier aufgewachsen bist.«
»Warum nicht?«
»Pff. Das ist hier dermaßen hinterm Mond. Das ist nicht mal ein Dorf. Das ist... das sind... Nur kleine Häuser mit alten Leuten am Fenster. Und diese Hütte hier, in der sich seit den fünfziger Jahren nichts mehr getan hat. Ich habe noch nie so einen Herd gesehen. Und der Ofen, der den ganzen Platz einnimmt! Und die Klos im Garten! Wie kann sich ein Kind hier entfalten? Wie hast du das geschafft? Wie hast du es geschafft, hier rauszukommen?«
»Ich habe dich gesucht.«
»Hör auf. Das gilt nicht, haben wir gesagt.«
»Hast du gesagt.«
»Komm schon.«
»Du weißt genau, wie ich es geschafft habe, du hast doch das gleiche erlebt. Nur, daß ich die Natur hatte. Dieses Glück hatte ich. Ich war die ganze Zeit draußen. Und Philou kann sagen, was er will, es war eine Nachtigall. Das weiß ich, das hat mir mein Opa gesagt, und mein Opa wußte, wovon er spricht. Der brauchte keine Lockvögel.«
»Wie hältst du es dann aus, in Paris zu leben?«
»Ich lebe nicht.«
»GibtÕs hier keine Arbeit?«
»Nein. Nichts Spannendes. Aber wenn ich irgendwann mal Bälger haben sollte, dann laß ich sie nicht zwischen lauter Autos aufwachsen, das schwör ich dir. Ein Kind, das keine Stiefel, keine Angel und keine Schleuder hat, ist nicht echt. Warum lachst du?«
»Nichts. Ich finde dich süß.«
»Mir wäre lieber, du würdest mich was anderes finden.«
»Du bist aber auch nie zufrieden.«
»Wie viele willst du?«
»Pardon?«
»Gören?«
»He«, schimpfte sie. »Machst du das extra, oder was?«
»Moment, ich meine doch nicht zwangsläufig mit mir!«
»Ich will keine.«
»Echt nicht?« meinte er enttäuscht.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Darum.«
Er packte sie im Nacken und zog sie an sein Ohr.
»SagÕs mir.«
»Nein.«
»Doch. SagÕs mir. Ich erzählÕs nicht weiter.«
»Weil ich nicht will, daß das Kind allein ist, wenn ich einmal sterbe.«
»Du hast recht. Deshalb muß man ganz viele machen. Und außerdem, weißt du...«
Er drückte sie noch fester.
»Du wirst nicht sterben. Du bist ein Engel, und Engel sterben nicht.«
Sie weinte.
»He, was ist los?«
»Ach, nichts. Ich kriege nur meine Tage. Es ist jedesmal dasselbe. Das zieht mich total runter, und ich fange bei der geringsten Kleinigkeit an zu heulen.«

Sie lächelte:
»Da siehst du, ich bin kein Engel.«


5. Kapitel
Sie lagen schon länger im Dunkeln, unbequem ineinander verschlungen, als Franck sagte:
»Es gibt da was, das mich beschäftigt.«
»Was denn?«
»Du hast doch eine Schwester, oder?«
»Ja.«
»Warum seht ihr euch nie?«
»Ich weiß nicht.«
»Das ist doch bescheuert! Ihr mußt euch unbedingt sehen!«
»Warum?«
»Darum! Es ist doch klasse, eine Schwester zu haben! Ich hätte alles gegeben für einen Bruder! Alles! Sogar mein Rad! Sogar meine ultrageheimen Angelplätze! Meine Extrarunden am Flipper! Wie in dem Lied. Ein Paar Handschuhe, ein paar Ohrfeigen...«
»Ich weiß. Ich habe irgendwann mal darüber nachgedacht, aber mich nicht getraut.«
»Warum nicht?«
»Wegen meiner Mutter vielleicht.«
»Hör auf mit deiner Mutter. Sie hat dir nur weh getan. Du bist doch kein Masochist. Du schuldest ihr nichts, weißt du?«
»Doch, natürlich.«
»Natürlich nicht. Wenn sie sich danebenbenehmen, muß man seine Eltern nicht lieben.«
»Aber natürlich.«
»Warum denn?«
»Na ja, es sind nun mal deine Eltern.«
»Halt. Darüber will ich nicht reden.«
»Okay, okay, nur eine Sache noch. Du bist nicht verpflichtet, sie zu lieben. Mehr hab ich dazu nicht zu sagen. Jetzt meinst du vielleicht, daß ich so bin, liegt an meinem Malus, und du hast recht. Aber nur, weil ich den Weg schon hinter mir habe, sag ich dir: Man muß seine Eltern nicht lieben, wenn sie sich völlig unmöglich benehmen, basta.«
»...«
»Bist du jetzt böse?«
»Nein.«
»Entschuldigung.«
»...«
»Du hast recht. Bei dir ist es nicht dasselbe. Sie hat sich ja trotz allem um dich gekümmert. Aber sie darf dich nicht davon abhalten, deine Schwester zu sehen, wenn du eine hast. Das Opfer ist sie wirklich nicht wert.«
»Nein.«
»Nein.«

6. Kapitel
Am nächsten Tag gärtnerte Camille nach Paulettes Anweisungen. Philibert setzte sich in den hinteren Teil des Gartens, um zu schreiben, und Franck bereitete für alle einen leckeren Salat.
Nach dem Kaffee war er es, der auf der Chaiselongue einschlief. Oh, wie ihm der Rücken weh tat.
Fürs nächste Mal würde er eine Matratze ordern. Nicht noch einmal so eine Nacht. Auf keinen Fall. Das Leben war ein gutes Mädchen, aber man brauchte deshalb nicht solche bescheuerten Risiken einzugehen. Durchaus nicht.

Sie kamen jedes Wochenende wieder. Mit und ohne Philibert. Meistens mit.

Camille - sie hatte es schon immer gewußt - reifte allmählich zu einer professionellen Gärtnerin heran.
Paulette bremste ihren Schwung:
»Nein. Das können wir nicht pflanzen! Denk dran, wir kommen nur einmal pro Woche. Wir brauchen was Robustes, was Widerstandsfähiges. Lupinen, wenn du willst, Flammenblumen oder Schmuckkörbchen. Schmuckkörbchen sind sehr hübsch. Ganz leicht. Die gefallen dir bestimmt.«

Und Franck besorgte über den Schwager eines Kollegen der Schwester des dicken Titi ein altes Motorrad, um damit zum Markt zu fahren oder René guten Tag zu sagen.

Er hatte also zweiunddreißig Tage ohne Bike durchgestanden und fragte sich immer noch, wie er das ausgehalten hatte.
Es war alt, es war häßlich, aber es knatterte köstlich:
»Hört euch das an«, rief er ihnen vom Schuppen aus zu, wo er herumhing, wenn er nicht in der Küche war, »hört euch das an, wie irre das klingt!«
Die anderen hoben träge den Kopf von ihren Sämlingen oder ihrem Buch.
»Knatter knatter knatter!«
»Klasse, was? Hört sich an wie eine Harley!«
Na ja. Sie nahmen ihre jeweilige Beschäftigung wieder auf, ohne ihn auch nur eines Kommentars zu würdigen.
»Pff. Ihr kapiert aber auch gar nix.«
»Wer ist diese Carla?« fragte Paulette Camille.
»Carla Davidson? Eine tolle Sängerin.«
»Kenn ich nicht.«

Philibert erfand ein Spiel für die Fahrt. Jeder mußte den anderen etwas beibringen, im Sinne einer Wissensvermittlung.
Philibert hätte einen exzellenten Lehrer abgegeben.

Irgendwann erklärte ihnen Paulette, wie man Maikäfer fängt:
»Morgens, wenn sie von der nächtlichen Kälte noch ganz träge sind und unbeweglich an ihren Blättern hängen, schüttelt man die Bäume, auf denen sie sitzen. Man schüttelt die Äste mit einer langen Stange und fängt sie auf einem Tuch auf. Man zerstampft sie, schüttet Kalk über sie und legt sie in einen Graben, daraus wird sehr guter stickstoffhaltiger Kompost. Aber man darf auf keinen Fall vergessen, sich etwas auf den Kopf zu ziehen!«

Ein andermal zerteilte Franck ihnen ein Kalb:
»Also, die besten Stücke zuerst: die Nuß, das Nußstück, das Frikandeau, die Blume, das Kalbskotelett, das Filet, das Karree, das heißt die ersten fünf Rippen und die nächsten drei, der Hals und der Bug. Dann folgen: die Kalbsbrust, die Knochendünnung und der Bauch. Und die dritte Kategorie: die Vorderhesse, die Hachsen und... Scheiße, eins fehlt mir noch.«

Philibert hingegen erteilte seinen Ungläubigen Nachhilfeunterricht, die mit Heinrich IV. nicht mehr verbanden als das berühmte Suppenhuhn, seinen Mörder Ravaillac und seinen berühmten Penis, von dem er nicht wußte, daß dieser kein Knochen war.

»Heinrich IV. wurde 1553 in Pau geboren und starb 1610 in Paris. Er war der Sohn von Anton von Bourbon und Johanna von Albret. Einer entfernten Cousine von mir, das nur nebenbei. 1572 heiratete er die Tochter Heinrichs II., Margarete von Valois, die ihrerseits eine Cousine meiner Mutter war. «(wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.01.2006