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Tanz im Korsett der Tradition

St. Petersburger Staatsballett begeisterte mit »Schwanensee« in der Stadthalle

Von Uta Jostwerner und
Carsten Borgmeier (Fotos)
Bielefeld (WB). Aus diesem Stoff sind Märchen: Ein Prinz verliebt sich in eine verzauberte Prinzessin, und er ist entschlossen, sie durch die Kraft seiner Liebe zu erlösen, doch ein böser Zauberer und seine intrigante Tochter stellen sich dem Glück in den Weg. Am Ende jedoch trägt die Liebe den Sieg davon, und wenn sie nicht gestorben sind, dann drehen sie noch immer ihre Pirouetten um den »Schwanensee«.

Es gibt sie, und zwar in großer Zahl: Romantiker, die sich immer wieder aufs Neue von der Macht der Liebe, die Peter Iljitsch Tschaikowskis Ballett »Schwanensee« innewohnt, verzaubern lassen. Sie besuchen zahlreich die Vorstellung des »St. Petersburger Staatsballetts« - nicht zu verwechseln mit dem weltberühmten Kirow-Ballett St. Petersburg -, das alljährlich in der Stadthalle Station macht, um Spitzentanz im klassischen Gewand auf die Bühne zu bringen. Diesmal war es Tschaikowskis Ballett rund um Prinz Siegfried, Prinzessin Odette und die bösen Verschwörer Rotbart und Odile, das die Massen in ihren Bann zog.
Der Uraufführung 1877 am Moskauer Bolschoi-Theater war zunächst kein Erfolg beschieden: Ihr mangelte es noch an Technik, Darstellung und Ausstattung. Erst die Inszenierung 1895 am Mariinskij-Theater mit der bis heute maßgeblichen Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow leitete den Siegeszug des Schwanen-Balletts ein.
Auch Viktor Korolkow setzt in seiner aktuellen Inszenierung auf das bekannte Formenvokabular der klassischen Tanzfassung und bleibt darüber hinaus in Inhalt und Ausstattung der Tradition verhaftet. An Kostümen und Kulissen im Renaissancestil kann sich das Auge drei Stunden lang weiden. Neben weißen Schwänen in Tutus beherrschen weich fließende Stoffe in dezenter Farbgebung die Szenerie. Vor märchenhafter Kulisse erzählen die Tänzer und Tänzerinnen die Geschichte in technischer Perfektion.
Den anspruchsvollen Part meistert das Corps de Ballet in schwereloser Anmutung. Kraftvolle Sprünge und grazile Hebefiguren fließen harmonisch ineinander. Vom Solo über den Pas de Deux, die Quadrille bis hin zur großen Ensemblenummer - mit bemerkenswerter Körperbeherrschung heben die Tänzer die Gesetze der Schwerkraft scheinbar aus den Angeln.
Die vorgegebene stilistische Strenge freilich lässt für individuelle Rollenausgestaltungen und Charakterzeichnungen nur wenig Raum. Auch Siegfried und Odette in den Hauptrollen gelingt es nicht, sich aus dem Korsett des Stereotyps zu befreien.
Abstriche aber musste vornehmlich der Musikliebhaber hinnehmen und erfahren, dass ein live aufspielendes Orchester - Auskünfte über dessen Zusammensetzung und den Namen des Dirigenten blieb das auf Hochglanz polierte Programmheft schuldig -Ê nicht ausnahmslos eine Bereicherung darstellt. Wenn Einsätze und Intonation wackeln, wenn Phrasierungsbögen in Tempo und Dynamik nur lasch angedeutet werden und sich Akzentuierung auf lustloses Pizzicato beschränkt, dann ist dem Live-Erlebnis eine Einspielung aus der Konserve eindeutig vorzuziehen.
Die wenigsten Zuschauer scheint's gestört zu haben, wertet man den minutenlangen Applaus als Ausdruck von Begeisterung.

Artikel vom 04.01.2006