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Hörgeräte werden unsichtbar

Dank des »Kulturlärms« erwirtschaftet die Branche höhere Umsätze

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). Ohrenschmalz und ein schlechtes Image sind die größten Feinde der Hörgeräte. Die Branche erwirtschaftet jährlich einen Umsatz von etwa 800 Millionen Euro. Dabei müsste viel mehr Geld in den Kassen klingeln, denn nur zwei Millionen der 14 Millionen Deutschen mit Hörschäden sind adäquat versorgt.

»Viele Leute fühlen sich mit einem Hörgerät auf Anhieb alt«, beklagt der Hörgeräteakustikermeister Jens-Peter Cordes aus Bielefeld. Dabei ließen die Geräte die Betroffenen dank fortschrittlicher Technik wieder voll am gesellschaftlichen Leben teilhaben. »Schlechtes Hören trennt von den Menschen«, zitiert Cordes den Philosophen Immanuel Kant und weist auf die segensreiche Mikroelektronik hin. Sie sei in der Lage, Störlärm zu unterdrücken und Sprachsignale hervorzuheben. Habe es früher nur Geräte mit zwei Kanälen (hoch und tief) gegeben, wiesen die modernen 16 auf, so dass die Anpassung auf den Hörverlust viel exakter vorgenommen werden könne, sagte der 38-Jährige gestern dieser Zeitung.
Ein gutes Mittelklassemodell kostet um die 1500 Euro, die Krankenkassen zahlen einen Festbetrag von 420 Euro pro Ohr und Hörgerät. Mittlerweile sind 1600 verschiedene Hörgeräte-Typen auf dem Markt. Unter den Herstellern entfallen weltweit die größten Marktanteile auf Siemens (24 Prozent), GN Resound (Dänemark, 17 Prozent) und Phonak (Schweiz, 15 Prozent). In Deutschland passen 3500 Hörgeräteakustiker die technischen Hilfsmittel individuell an. Viele von ihnen fahren zweigleisig und bieten in den Geschäften auch Brillen an. In Ostwestfalen-Lippe setzen nach Angaben der Handwerkskammer 59 Betriebe auf die Kombination mit anderen Gewerken, 32 konzentrieren sich nur auf das Geschäft mit dem Hören.
Angesichts der großen Zahl von Menschen, die eigentlich Hörhilfen bräuchten, aber noch unversorgt sind, sind die »Branchenaussichten gut«, glaubt Gerd West. Der Hörgeräteakustikmeister ist beim Filialisten Geers in Dortmund für die Produkte zuständig. Das Unternehmen mit 250 Zweigstellen in Deutschland und Europa, darunter sieben Filialen in Ostwestfalen-Lippe, verkaufte 2005 gut 25 000 Geräte und verbesserte den Umsatz um fünf Prozent auf 30 Millionen Euro.
Während eine Brille als Zeichen von Intelligenz gedeutet werde, hafte den Hörgeräten das Vorurteil an, die Träger gehörten jetzt zum alten Eisen, bedauert West. Geers reagiert darauf, in dem das Unternehmen nahezu unsichtbare Geräte anbietet. Gerd West: »Sie sind nicht größer als eine längliche Pille und verschwinden im Gehörgang.« Nur ein dünner Schlauch rage heraus. Dank Spitzentechnik könne der Hörverlust, sprich die Lautstärke, zu 100 Prozent ausgeglichen werden. Die Verarbeitung der Schallwellen im Hörzentrum dagegen sei nicht vollständig reparabel. Volldigitale Geräte seien heute in der Lage, je nach Situation auf Sprach- oder Musikerkennung umzuschalten.
»Im Kommunikationszeitalter sind die Ansprüche ans Hören größer geworden«, betont Jens-Peter Cordes. Habe das Gehör in der Steinzeit vor allem dazu gedient, anschleichende Tiere, knackende Äste oder Donnergrollen wahrzunehmen, gerate im 21. Jahrhundert jemand schnell ins Abseits, wenn er die Fülle an akustischen Eindrücken nicht erfassen kann. Wegen des »Kulturlärms« rechnet Cordes mit einer Zunahme der Hörschäden. Waren seine Kunden früher 60 Jahre und älter, kommen mittlerweile auch jüngere Männer und Frauen.
Mit Kulturlärm ist übrigens nicht Silvester gemeint. Etwa 8000 Menschen erleiden am Jahreswechsel ein Knalltrauma. Davon profitieren in diesen Tagen die Hals-, Nasen- und Ohrenärzte. Aber auch die Perspektiven der Hörgeräte-Branche sind unabhängig von Silvester-Böllern gut.

Artikel vom 05.01.2006