04.01.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Kanzlerin Angela Merkel

»Unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme gelten den Angehörigen der Opfer.«

Leitartikel
Unglück in Bad Reichenhall

Ein Bau-TÜV
ist längst
überfällig


Wolfgang Schäffer
Am Anfang stehen Fassungslosigkeit, Bestürzung und vor allem Trauer. Mindestens elf, vermutlich aber bis zu 15 Menschen haben ihr Leben unter den Trümmern des eingestürzten Hallendachs der Eislauf- und Schwimmhalle in Bad Reichenhall verloren. Betroffen von dem schrecklichen Unglück sind insbesondere Kinder und Jugendliche. Den Angehörigen der Opfer gilt tiefes Mitgefühl.
Gleichwohl aber werfen die dramatischen Ereignisse in dem beliebten bayerischen Touristenort eine Menge Fragen nach Schuld oder Schuldigen auf. Hätte die Halle früher geschlossen werden müssen? War das Gebäude baufällig? Wurden die Kontrollmaßnahmen schlampig durchgeführt? Sachlich schlüssige, Verbindliche Antworten auf diese Fragen kann es derzeit wohl noch nicht geben.
Fakt ist aber, dass das Training des Eishockey-Nachwuchses von Bad Reichenhall etwa 30 Minuten vor der Katastrophe abgesagt wurde - aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Die andauernden heftigen Schneefälle hätten vermutlich in absehbarer Zeit zu einer zu großen Dachlast geführt. Auch soll aus der Konstruktion bereits lautes Knacken zu hören gewesen sein. Warum aber ist dann das Gebäude nicht unverzüglich geräumt worden? Warum wurde der Publikumslauf nicht sofort abgebrochen? Fragen, mit denen sich die Staatsanwaltschaft in den kommenden Tagen und Wochen beschäftigen muss. Sie ermittelt wegen fahrlässiger Tötung.
Voreilige Schuldzuweisungen sind indessen trotz dieser Ungereimtheiten fahrlässig. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass gestern Nachmittag innerhalb weniger Stunden sowohl in der Nähe von München als auch im direkt neben Bad Reichenhall gelegenen Salzburg insgesamt drei Dächer einstürzten. Zwei Lagerhallen und eine Bowlingbahn waren betroffen. Mit dem Blick auf das Chaos im Münsterland mit umgestürzten Strommasten Anfang Dezember scheint es fast so, als wäre der Schnee in diesem Winter um einiges schwerer als jemals zuvor. Denn 50 oder auch 70 Zentimeter der weißen Pracht innerhalb von 48 Stunden sind in den Bergen keine Seltenheit.
Bisher haben die Konstruktionen den winterlichen Belastungen immer Stand gehalten. Anders als beispielsweise in Russland, wo 2004 und 2005 gleich zwei Dächer von riesigen Schwimmhallen zusammenbrachen und viele Menschen unter sich begruben. Pfusch am Bau war dort die Ursache.
Das kann und darf man in den aktuellen Fällen nicht unterstellen. Das Unglück von Bad Reichenhall führt aber eindringlich vor Augen, dass die regelmäßige Überprüfung vor allem öffentlicher Gebäude in Sachen Statik und Materialermüdung ein Muss ist. Bei Brückenbauwerken ist dieses Vorgehen schon lange selbstverständlich: Ein Bau-TÜV ist Pflicht.
Verschleißerscheinungen des mehr als 30 Jahre alten Daches wären so möglicherweise rechtzeitig erkannt worden - und die Opfer von Bad Reichenhall würden noch leben.

Artikel vom 04.01.2006