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Dennoch! fügte er bekräftigend hinzu, die Höflichkeit des Herrn gegenüber seinem Diener darf nicht zu gemeiner Vertraulichkeit verkommen. Zum Beispiel ist nichts vulgärer, als sich den Klatsch seiner Leute anzuhören.«
Und wieder wurde gelacht. Auch wenn uns nicht zum Lachen war.
Anschließend sprach er altgriechisch, rezitierte viele Gebete auf Latein und räumte ein, daß er Die große Sause nie gesehen habe, weil darin die Geistlichen verspottet wurden.
»Ich glaube, ich bin der einzige Franzose, der Die große Sause nie gesehen hat, oder?«
Freundliche Stimmen beruhigten ihn: Nein, nein. Bist nicht allein.
»Zum Glück geht es... mir besser. Ich... Ich habe die Zugbrücke heruntergelassen, glaube ich. Und ich... ich habe meine Ländereien verlassen, um das Leben zu lieben. Ich habe Menschen kennengelernt, die viel nobler sind als ich, und ich... Na ja. Einige von ihnen sitzen hier im Saal, und ich möchte sie ni... nicht in Ve... Verlegenheit bringen.«
Da er sie anschaute, drehten sich alle zu Franck und Camille, die verzweifelt versuchten, den rrr... hmm... den Kloß hinunterzuschlucken, den sie plötzlich im Hals verspürten.
Denn dieser Kerl, der das alles erzählte, dieser lange Lulatsch, der alle mit seinen Nöten zum Lachen brachte, war ihr Philou, ihr Schutzengel, ihr SuperNesquick, den der Himmel geschickt hatte. Der sie gerettet und seine langen hageren Arme um ihre entmutigten Rücken geschlungen hatte.

Während das Publikum applaudierte, zog er sich wieder an. Jetzt stand er in Frack und Zylinder vor ihnen.
»Nun ja. Ich habe alles gesagt, glaube ich. Ich hoffe, Sie mit diesen verstaubten Geschichten nicht allzusehr gelangweilt zu haben. Sollte dies bedauerlicherweise der Fall sein, bitte ich Sie, mir zu verzeihen und ihr Beileid dieser loyalen Dame mit den rosa Haaren auszusprechen, da sie es war, die mich gezwungen hat, heute vor Sie zu treten. Ich verspreche Ihnen, ich werde es nicht noch einmal tun, aber eh...«
Er schwenkte seinen Stock in Richtung Kulissen, und sein Page kam mit einem Paar Handschuhe und einem Blumenstrauß zurück.
»Man beachte die Farbe«, fügte er hinzu, während er sie überstreifte, »creme. Mein Gott, ich bin ein unverbesserlicher Reaktionär. Wo war ich noch? Ach ja! Die rosa Haare. Ich... Ich weiß, daß Monsieur und Madame Martin, die Eltern von Mademoiselle aus Belleville, im Saal sitzen, und ich... ich... ich... ich...«
Er kniete nieder:
»Ich... ich stottere, nicht wahr?«
Lachen.
»Ich stottere, und das ist ausnahmsweise auch einmal ganz normal, denn ich halte um die Hand Ihrer To...«
In diesem Moment schoß eine Kanonenkugel über die Bühne und stieß ihn um. Sein Gesicht verschwand unter einem Berg von Tüll, und man hörte nur:
»Hiiiiiiiiiii, ich werd Marquiiiiiiiii-se!!!«

Mit verrutschter Brille stand er wieder auf und hielt sie auf dem Arm:
»Eine vortreffliche Eroberung, finden Sie nicht?«
Er lächelte.
»Meine Ahnen können stolz auf mich sein.«

11. KapitelCamille und Franck blieben nicht zum anschließenden Silvesterumtrunk der Truppe, denn sie durften den Zack um 23:58 Uhr nicht verpassen.

Diesmal saßen sie nebeneinander und waren kaum gesprächiger als auf der Hinfahrt.
Zu viele Bilder, zu viele Erschütterungen.
»Glaubst du, er kommt heute abend nach Hause?«
»Mmm. Sie scheint es mir mit der Etikette nicht so genau zu nehmen.«
»Das ist verrückt, oder?«
»Total verrückt.«
»Kannst du dir die Visage der Marie-Laurence vorstellen, wenn sie ihre künftige Schwiegertochter zum ersten Mal sieht?«
»Meiner Meinung nach dürfte das nicht so schnell der Fall sein.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich weiß nicht. Weibliche Intuition. Neulich im Schloß, als wir nach dem Essen mit Paulette spazieren waren, sagte er plötzlich bebend vor Wut: ÝKönnt ihr euch das vorstellen? Es ist Ostern, und sie haben für Blanche nicht einmal Eier versteckt.Ü Mag sein, daß ich mich irre, aber ich hatte das Gefühl, das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ihn haben sie ja reichlich schikaniert, ohne daß er es ihnen besonders übelzunehmen schien, aber das hier. Keine Eier für die Kleine zu verstecken, das war zuviel des Guten. Ich hatte das Gefühl, er sucht jetzt ein Ventil für seinen Zorn, indem er finstere Maßnahmen ergreift. Um so besser, meinst du? Recht hast du: Sie haben ihn nicht verdient.«

Franck schüttelte den Kopf, und sie ließen es dabei bewenden. Denn sonst wären sie gezwungen gewesen, ins Futur zu wechseln (Und wenn sie heiraten, wo werden sie leben? Und wir, wo werden wir leben? etc.), und zu dieser Art Unterhaltung waren sie nicht bereit. Zu riskant. Zu halsbrecherisch.

Franck bezahlte Madame Perreira, während Camille Paulette die Neuigkeit verkündete, dann aßen sie eine Kleinigkeit im Salon und hörten dabei erträglichen Techno.
»Das ist kein Techno, das ist Elektro.«
»Oh, Verzeihung.«

Tatsächlich kam Philibert in dieser Nacht nicht nach Hause, und die Wohnung erschien ihnen schrecklich leer. Sie freuten sich für ihn und trauerten für sich. Ein übler Nachgeschmack von Verlassenheit stieg ihnen in die Kehle.
Philou.
Sie brauchten keine Worte, um ihre Beklemmung zum Ausdruck zu bringen. Ausnahmsweise hatten ihre Antennen besten Empfang.
Sie nahmen die Hochzeit ihres Freundes zum Anlaß, sich über allerlei Hochprozentiges herzumachen, und stießen auf die Gesundheit aller Waisenkinder dieser Welt an. Ihrer gab es so viele, daß sie diesen bewegten Abend mit einem kräftigen Rausch beschlossen.
Kräftig und bitter.

12. KapitelMarquet de la Durbellière, Philibert Jehan Louis-Marie Georges, geboren am 27. September 1967 in La Roche-sur-Yon (Vendée), ehelicht Martin, Suzy, geboren am 5. Januar 1980 in Montreuil (Seine-Saint-Denis), im Standesamt des 20. Arrondissements von Paris am ersten Montag im Juni 2004, unter den bewegten Blicken seiner Trauzeugen Lestafier, Franck Germain Maurice, geboren am 8. August 1970 in Tours (Indre-et-Loire), und Fauque, Camille Marie ƒlisabeth, geboren am 17. Februar 1977 in Meudon (Hauts-de-Seine), und in Anwesenheit von Lestafier, Paulette, die sich weigert, ihr Alter anzugeben.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.01.2006