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Neuanfang nach Kriegsende 1945: Ida und Heinrich Lefelmann mit der Tankstelle in Jöllenbeck im Wohnhaus.

»Wir machen Musik...«

Silvester 1945: Karl-Heinz Lefelmann spielte in Jürmke zum Tanz

Von Michael Diekmann
und Hans-Werner Büscher (Fotos/Repros)
Bielefeld (WB). 31. Dezember 1945, nach der ersten Friedensweihnacht das erste Friedenssilvester. »Mensch haben wir gefeiert, bis in den frühen Morgen ging es rund«, erzählt Karl-Heinz Lefelmann (79) beim Blick zurück. Jöllenbecks Fahrlehrer-Urgestein erinnert sich gut an Neujahr 1946, an Freunde und ehemaligen Klassenkameraden, an seinen Auftritt als Schlagzeuger.

Heute an Silvester 2005 plant Karl-Heinz Lefelmann keine große Party, sondern einen ganz ruhigen Jahreswechsel. Freunde sind verreist, das Schlagzeug wird nicht angerührt, erst im nächsten Jahr wieder im Keller eines Freundes als Klavierbegleitung eingesetzt. Zeit genug für Lefelmann, an Silvester in alten Fotokästen zu stöbern und Revue passieren zu lassen, wie es damals in Jöllenbeck, in Bielefeld und in Westfalen aussah, 1945 im Dezember, gut sieben Monate nach Kriegsende. »Es gab diese ungeheure Erleichterung, dass der ganze Zauber endlich vorbei war«, erzählt der Jöllenbecker.
Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Rolf, mit Mutter Ida und Vater Heinrich Lefelmann war er im Herbst 1945 mit dem Wiederaufbau beschäftigt an Jöllenbecks einziger Tankstelle. Bis auf die Säulen des einstigen Daches, erzählt Lefelmann, war die Firma zerstört worden. Auf der Grundfläche wurde nun eine 55 Quadratmeter-Wohnung für vier Personen errichtet. Die Zapfsäule, an die sich noch viele Jöllenbecker erinnern können, stand etwa in der Mitte der vorderen Hauswand, wurde von einer Handpumpe bedient. Betankt wurde aus großen Blechkannen mittels Einfüllstutzen.
Lefelmanns Schilderungen reichen zurück in die Zeit vor 1945. Im Oktober 1926 in Jöllenbeck geboren, wuchs er in einem florierenden Familienbetrieb auf. Vater Heinrich Lefelmann kutschierte mit seinem Omnibusbetrieb Frauenhilfe und Parteimitglieder ebenso auf Ausflügen wie Wandergruppen oder werktags die Stoffballen aus der örtlichen Weberei. Die passten haargenau zwischen die Sitzreihen, erinnert sich Lefelmann. Auch die Vorkriegsbusse vermag er noch genau zu beschreiben - auf Opel-Blitz-Fahrwerk mit 3,5-Liter Motoren.
Einen der zwei Wagen des Reisedienstes, die zum Kriegseinsatz eingezogen worden waren, hatte die Firma schließlich 1945 zurückbekommen. Damit fuhren die Lefelmanns im Auftrag des Landrates für die Kleinbahn, sorgten für wichtige Verbindungen in den ersten Nachkriegsmonaten.
Wer Lefelmanns Schilderungen zuhört, hat viele dieser typischen Bilder in Schwarz-Weiß vor Augen, wie sie in zumeist autobiographischen Filmen zu sehen waren. Ab 1937 ging Karl-Heinz Lefelmann zum Helmholtzgymnasium. Zur Schule ging es sommertags mit dem Fahrrad, im Winter mit der Kleinbahn. Auf vergilbten Fotos zeigt er Facetten seiner Jugend: Im Arbeitsdienst mit Uniform und Spaten; als Luftwaffenhelfer, der mit seiner Einheit auf dem Kesselbrink antritt.
Seit Juni 1942 hat Lefelmann den Führerschein. Das zerfledderte Dokument, unterzeichnet vom »Führer der Motorstandarte 65«, einem gewissen Sandmüller, hat er ebenso aufbewahrt wie alle Berechtigungsscheine und Lizenzen, die ihn bis zum heutigen Tag begleitet haben. Mit fast 80 Jahren ist Lefelmann immer noch als Fahrlehrer zugelassen. Erhalten hat er aber auch alle Führerscheine des Vaters, der halb Jöllenbeck das Autofahren beibrachte.
Wie der gesamte Jahrgang 1926 wird Lefelmann im Januar 1944 Soldat. Der Vater, auf Heimaturlaub von der Ostfront, holt ihn persönlich aus der Klasse, bringt ihn zum Zug. In nicht einmal eineinhalb Jahren erlebt der Sohn den Einmarsch der Kanadier an der holländischen Küste in der ersten Reihe mit, führen weitere Einsätze den zielsicheren Schützen am Nebelwerfer und vorgeschobenen Beobachter schließlich Richtung Ungarn.
Drei Kilometer vor Graz erlebt der Jöllenbecker schließlich das Kriegsende. Eine Hand voll Schulkameraden vom Helmholtz, alle Jahrgang 26, waren auch im Krieg zusammen geblieben. »Heute bin ich allein, habe viele überlebt«, erzählt Lefelmann.
Damals in der Steiermark hatten die russischen Truppen die jungen deutschen Mannschaftsdienstgrade laufen lassen. Man schlug sich durch. Westlich des Inn zwischen Braunau und Pocking war Lefelmann irgendwann allein, wurde völlig erschöpft von zwei Bäuerinnen auf einem Milchkannengestell schlafend aufgelesen und auf dem Hof wieder zu Kräften gebracht. Drei Wochen war er da schon unterwegs gewesen, zu Fuß über den Alpenhauptkamm.
Zurück in Jöllenbeck, kam der 19-Jährige gerade rechtzeitig zum beginnenden Wiederaufbau. Nach lähmenden Kriegsjahren war das Leben zurück. Häuser wurden auf Trümmern wieder errichtet. Lefelmanns Reisedient bekam einen Vorkriegsbus zurück, der bis zum ersten Neuwagen 1948 treue Dienste leistete, am Steuer Karl-Heinz Lefelmann. Es wurde transportiert, manövriert und improvisiert. Und ganz nebenbei musiziert.
So kam es schließlich auch, dass Lefelmann junior gemeinsam mit ehemaligen Schulkameraden »vom Helmholtz« im Gasthof Eickmeier am Adlerdenkmal den Takt angab. Silvester 1945, direkt nach dem Familienessen, zu dem Mutter Ida Kartoffelsalat nach Mutters Art zubereitet hatte, setzte sich der Nachwuchs-Schlagzeuger ans Instrument. Motto des Abends: »Wir machen Musik, da geht euch der Hut hoch...«

Artikel vom 31.12.2005