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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Der letzte Tag des Jahres ist eine gute Gelegenheit, innezuhalten und die vergangenen zwölf Monate noch einmal am geistigen Auge vorüberziehen zu lassen und auszuwerten. Viele nutzen sie.
Eine Achtzehnjährige etwa nahm zu diesem Zweck extra ihren alten Kalender wieder zur Hand und ging ihn, um ihrem Gedächtnis aufzuhelfen, Woche für Woche durch. Dabei kam sie zu folgendem Ergebnis: »Ich habe meine Gedanken und Gefühle wieder ein bisschen geordnet, und ich kann auf ein reiches, volles Jahr zurückblicken, auch wenn es nicht immer gut war. Ich habe jetzt einen besseren Überblick, kann einiges ändern, kann mir auch mal auf die Schultern klopfen, kann Führung entdecken und kann getrost ein neues Jahr aus Gottes Hand nehmen.«
Ähnlich erinnert sich ein 42-jähriger Mann: »Es ist ein zufriedenes Gefühl für mich, diesen Rückblick zu machen. Wie eine Ernte, meinen Reichtum erkennen, aber auch dem Gescheiterten und Versäumten und Schiefgegangen mich noch einmal zu stellen. Und dann kann ich ablegen, weglegen, bewusst aus der Hand geben - in die âinnere AblageÔ oder âzurück in deine Hände, GottÔ, oder einfach ins Licht halten und anerkennen: So war es. Es ist vorbei. Ich bin nun bereit und offen für Neues.«
Schließlich noch eine schwer erkrankte Frau, 72 Jahre: »Es war beglückend, darüber nachzudenken. Was mir da alles eingefallen ist, wieviel und was ich im vergangenen Jahr erleben durfte. Wo ich doch so vieles nicht mehr machen kann. Da war vieles wie ein Geschenk. Da kann ich nur staunen und danken.«
Diese Zitate sind, gekürzt, dem schönen und empfehlenswerten Buch »Die Heilkraft der Feste. Der Jahreskreis als Lebenshilfe« von Hans Gerhard Behringer (München 1997, S. 71f.) entnommen.
Es fällt auf, dass dieser Drei, obwohl verschieden an Alter und Lebensgeschichte, zu ähnlichen, vielleicht sogar typischen Erkenntnissen kommen. Erstens: Obgleich die Schattenseiten nicht ausgeblendet werden, überwiegt in der Rückschau das Positive, das Dankenswerte, das Mutmachende. Zweitens: Wenn sie das auch jeweils anders ausdrücken, klingt ebenfalls in allen drei Berichten die religiöse Dimension an: »Führung entdecken«, »ein neues Jahr aus Gottes Hand nehmen«, »Ernte erkennen«, »zurücklegen in Deine Hände, Gott«, »Geschenk«, »staunen und danken«. Drittens: Alle sehen aufgrund dessen, was sie in dem endenden Jahr erfahren und sich ins Gedächtnis zurückgerufen haben, getrost, gespannt, voller Mut und Hoffnung der Zeit entgegensehen, die vor ihnen liegt.
Die religiöse Dimension ist nicht, wie »Religion« in der Schule, ein Unterrichtsfach neben anderen, auch nicht nur ein bestimmter Teilbereich des Lebens, der von manchen sogar für entbehrlich gehalten wird. Sie ist vielmehr etwas Fundamentales; denn sie hat mit den tragenden Fundamenten des Daseins insgesamt zu tun. Als solche ist sie in der menschlichen Seele verankert.
Sie scheint immer dann auf, wenn einem bewusst wird, dass man nicht aus sich selbst heraus lebt: Allem Tun geht ein Empfangen voraus; wir werden in stärkerem Maße geführt, als dass wir selber gehen. Manchmal allerdings führt der Weg auch dorthin, wohin man von sich aus nicht gegangen wäre. Es gibt unerwartete Wendepunkte und Begegnungen, die man nicht für möglich gehalten hätten.
Uns wird etwas zugemutet, und das in doppelter Bedeutung: als Mutprobe und als Zuwachsen von Mut. Wir erleben, dass wir uns von Kummer und Leid erholen. Wir erhalten unaufhörlich Geschenke, wenn auch verschiedener Art. Manche erweisen sich sofort als ein Glück. Andere wollen erst einmal behutsam ausgepackt sein. Dies erfordert zwar Zeit und Geduld, kann sogar Schmerzen bereiten, aber es lohnt sich auch das.

Artikel vom 31.12.2005