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Misshandlungen an Kindern werden häufiger bekannt

Experten deuten steigende Fallzahlen auch mit größerer Aufmerksamkeit

Berlin (dpa/Reuters). Die Zahl der gemeldeten Kindesmisshandlungen ist seit 1996 um etwa 50 Prozent gestiegen. Dies geht aus neuen Statistiken des Bundeskriminalamtes (BKA) hervor.
Gewalt gegen Kinder in der schlimmsten Form: Am 8. November starb der zweijährige Tim in Pinneberg nach schwerer Misshandlung. Mitmenschen sind erschüttert und drücken ihr Gefühl mit Kerzen und Teddys aus.

Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) kündigte politische Konsequenzen an. »Der Staat muss sich auch besonders um die Kinder kümmern, die auf der Schattenseite des Lebens geboren werden«, sagte sie. Sie strebe eine Art »Frühwarnsystem« an, um das Risiko, dass Kinder verwahrlosen oder misshandelt werden, zu verringern. In ihrem Etat seien zudem zehn Millionen Euro zur Stärkung der frühkindlichen Förderung ausgewiesen.
Im vergangenen Jahr sind 2916 Fälle von Misshandlungen von Kindern bis 14 Jahren angezeigt worden. Im Jahr 1996 hatte das BKA noch 1971 Fälle von Misshandlungen registriert. Dagegen stagniert die Zahl der Vernachlässigung von Kindern. Sie hat mit 1170 gemeldeten Fällen 2004 fast so hoch wie 1996 gelegen, als 1193 Fälle registriert wurden.
Der statistische Anstieg der Kindesmisshandlungen seit Mitte der 90er Jahre ist nach Angaben des BKA wohl auch durch eine erhöhte Anzeigebereitschaft bedingt. »Diese schon seit langem festzustellende statistisch starke Zunahme dürfte auch auf eine verbesserte Aufhellung des Dunkelfeldes zurückzuführen sein, durch ein verändertes Anzeigeverhalten zumal bei innerfamiliärer Gewalt und bei gewalttätigen Auseinandersetzungen unter Minderjährigen«, erklärte das BKA am Freitag mit Verweis auf die polizeiliche Kriminalitätsstatistik 2004. In den vergangenen Jahren gab es allerdings auch Gesetzesänderungen wie das In-Kraft-Treten des Gewaltschutzgesetzes, die die Zahl der angezeigten Fälle beeinflusst haben könnten.
Die Deutsche Liga für das Kind begrüßte von der Leyens Vorstoß für ein Frühwarnsystem. Geschäftsführer Jörg Maywald sagte, erforderlich sei eine sinnvolle Mischung aus verstärkter Kontrolle und mehr Hilfen für die Familien. »Dazu gehören Eltern-Kind-Zentren, aber auch, dass Hebammen sich nicht nur um medizinische, sondern auch um soziale Fragen kümmern.« Der Lobbyverband für Kinder fordert zudem eine bessere Zusammenarbeit der Fachleute und Einrichtungen im Kampf gegen Misshandlungen. »Es ist nicht immer gesichert, dass Dinge, die einem Arzt auffallen, auch dem Jugendamt bekannt werden und umgekehrt«, sagte Maywald.
Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Wolfram Hartmann, kritisierte vor dem Hintergrund der BKA-Zahlen, dass die jugendmedizinischen öffentlichen Dienste aus Kostengründen abgebaut werden sollen. Damit gehe wichtige Kompetenz verloren, sagte er. Vorsorgeuntersuchungen allein könnten das Problem jedoch nicht lösen. Nur ein dichtes Netzwerk, das werdende Eltern schon während der Schwangerschaft betreue, könne helfen, Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern zu vermeiden.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) sprach sich dafür aus, den Einfluss des Staates auf die Kindererziehung zu stärken. Er möchte »Erziehungsgespräche« zwischen Eltern und Lehrern verbindlich machen. An Jugendliche würden immer höhere Anforderungen gestellt. Deshalb »müssen wir mehr über Elternverantwortung reden«, sagte der Politiker.
Bildungsexperten äußerten sich skeptisch zum Vorstoß Oettingers. »Mit Gesetzen und Verordnungen wird man weniger erreichen als mit einem guten Betreuungsangebot«, sagte der Bildungsexperte der Industrieländerorganisation OECD, Andreas Schleicher.
Zuvor war aus dem Saarland der Vorschlag gekommen, regelmäßige Untersuchungen für alle Kinder zur Pflicht zu machen, um Misshandlungen und Vernachlässigung früher aufdecken zu können. Bislang sind so genannte Erziehungsgespräche der Eltern nur in Fällen grober Pflichtverletzungen wie Verwahrlosung vorgesehen. Diese Gespräche werden von den Jugendämtern oder von Richtern angesetzt.

Artikel vom 31.12.2005