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Das Liebesorakel mit
den Filzpantoffeln

An Silvester befragten unsere Vorfahren die Zukunft

Von Dietmar Kemper
Bielefeld/Detmold (WB). »Wer mein Geliebter will sein, der muss diese Nacht im Traum mir erscheinen.« Mit diesem Spruch krochen bis ins 20. Jahrhundert hinein junge Mädchen in Westfalen-Lippe in der Neujahrsnacht ins Bett. Bevor Feuerwerkskörper abgebrannt wurden, prägten andere Bräuche den Jahreswechsel.

»Silvester diente als Orakel«, betont die Volkskundlerin im Lippischen Landesmuseum in Detmold, Imke Tappe-Pollmann. So wie die jungen Mädchen hofften, im Traum ihren späteren Mann kennen zu lernen, wünschten sich Eltern durch das Bleigießen Aufschlüsse über den für ihre Kinder geeigneten Beruf. »Sah das erkaltete Gebilde aus wie ein Putzbrett, sollte der Junge Maurer werden«, erklärt Tappe-Pollmann. Außerdem leiteten die Landbewohner vom Kartoffelschälen Vorhersagen ab. Dabei musste der Erdapfel ohne abzusetzen rasiert und die längliche Schale über den Rücken geworfen werden. Dann versuchten Frauen, aus den Verschlingungen der Kartoffelhaut Buchstaben abzulesen, die den Namen ihres späteren Ehemannes verrieten.
Wer als erster heiraten wird, ermittelten die Töchter einer Familie mit Hilfe von Pantoffeln. Mit dem Rücken zueinander stellten sie sich im Kreis auf und jede warf einen Pantoffel über ihren Kopf. Bei wem die Schuhspitze zur Tür zeigte, die würde als erste das Haus verlassen. Neben Liebe wünschten sich die Westfalen damals wie heute am Jahresende Glück und Gesundheit. Dazu mussten die bösen Geister abgeschreckt werden. Wurde über Jahrhunderte mit Peitschen, Flinten, Vorderladern und Karbid in Milchkannen Krach gemacht, um dunkle Mächte zu vertreiben, tun es ihnen im 21. Jahrhundert Millionen Männer und Frauen mit Feuerwerkskörpern gleich, ohne die Hintergründe zu kennen.
Manchmal sorgten unsere Vorfahren selbst für einen schlechten Start, wenn durch Schießen Nachbarn, Familienangehörige und Tiere verletzt wurden oder Ställe in Brand gerieten. Deshalb erließ die Obrigkeit im Fürstentum Lippe 1722 die Verordnung »gegen Fressen, Saufen und Schießen«. Getrunken wurde damals nicht Sekt, sondern Korn. Schmecken ließen sich die Bauern- und Kaufmannsfamilien Äpfel und Hefegebäck. Aber auch Waffeln (»Eiserkuchen«) setzten sich in Westfalen als traditionelle Leckerei am Neujahrstag durch.
Bis zum Ersten Weltkrieg sind die Heischelieder dokumentiert. Jugendliche formierten sich am 1. Januar zu Gruppen, zogen von Haus zu Haus und wünschten den Bewohnern ein langes Leben. Nachdem sie Lieder gesungen hatten, baten sie um Geld, Äpfel, Nüsse, Wurst und Gebäck. Um Gäste anzulocken, schenkten Wirte früher um Mitternacht Freibier aus. An der Tradition, Silvester daheim zu feiern und den Übergang ins neue Jahr draußen vor der Tür mit Nachbarn zu begrüßen, konnten sie aber nicht rütteln.
Nicht nur Uhren und Glocken gaben den Beginn des neuen Jahres bekannt. Die Volkskundler des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe stießen bei ihren Forschungen auf das Neujahrshämmern in Nienberge bei Münster: Um Mitternacht begrüßten der Schmied und die Gesellen das neue Jahr mit zwölf kräftigen Schlägen.

Artikel vom 31.12.2005