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Wurde Ihnen etwas gestohlen?«
He ho, langsam! Ganz ruhig jetzt! Er würde nicht »mein Herz« oder so was in der Richtung antworten.
»Na ja... eh... Gestern ist jemand bei mir eingedrungen.«
»So?«
»Ja.«
»Waren Sie dabei?«
»Ich schlief.«
»Haben Sie etwas gesehen?«
»Nein.«
»Wie ärgerlich. Sind Sie wenigstens gut versichert?«
»Nein«, antwortete er betreten.
Sie seufzte:
»Das ist nun wirklich eine sehr vage Aussage. Ich weiß, diese Dinge sind nicht sehr angenehm, aber... Wissen Sie... Am besten wäre es, wir würden den Tathergang noch einmal rekonstruieren.«
»Tatsächlich?«
»Ja sicher.«
Mit einem Satz war er auf ihr. Sie japste.

»Auch ich habe Hunger, auch ich! Ich habe seit gestern abend nichts mehr gegessen, und du wirst es ausbaden, Mary Poppins. Verflucht, wie lange das hier drin schon blubbert. Ich kann mich kaum beherrschen.«

Er verschlang sie vom Kopf bis zu den Füßen.
Zuerst machte er sich über ihre Sommersprossen her, dann knabberte, pickte, knusperte, leckte, verschlang, mampfte, futterte, biß und nagte er sie ab bis auf die Knochen. Unterwegs kam sie auf den Geschmack und zahlte es ihm heim.

Sie wagten nicht, einander anzusprechen oder gar anzuschauen.
Camille war betrübt.
»Was ist los?« fragte er beunruhigt.
»Ach je, der Herr. Ich weiß, es ist sehr ungeschickt, aber ich bräuchte einen Durchschlag für unser Archiv und habe vergessen, Kohlepapier einzulegen. Wir werden wohl noch mal von vorn anfangen müssen.«
»Jetzt??«
»Nein. Nicht jetzt. Aber zu lange sollten wir nicht warten. Mitunter vergißt man dann gewisse Details.«
»Gut. Und Sie glauben, daß ich eine Entschädigung erhalte?«
»Das würde mich wundern.«
»Er hat alles mitgenommen, wissen Sie.«
»Alles?«
»Fast alles.«
»Das ist hart.«

Camille lag auf dem Bauch, das Kinn auf die Hände gestützt.
»Du bist schön.«
»Hör auf«, gab sie zurück und vergrub ihr Gesicht in der Armbeuge.
»Nein, hast recht, du bist nicht schön, du bist... Wie soll ich sagen... Lebendig. Alles an dir ist lebendig: deine Haare, deine Augen, deine Ohren, deine kleine Nase, dein großer Mund, deine Hände, dein göttlicher Po, deine langen Beine, deine Grimassen, deine Stimme, deine Zärtlichkeit, dein Schweigen, dein... deine...«
»Mein Organismus?«
»Jaaa.«
»Ich bin nicht schön, aber mein Organismus ist schön lebendig. Super Aussage. Das hat mir ja noch nie jemand gesagt.«
»Dreh mir nicht die Wörter im Mund rum«, sagte er düster, »das ist zu leicht für dich. Hm.«
»Was?«
»Ich hab noch mehr Hunger als vorhin. Ich muß jetzt wirklich was essen.«
»Ah... gut... bis denn... Lebewohl, wie man so schön sagt.«
Er wurde panisch:
»Willst du... nicht, daß ich dir was mitbringe?«
»Was bietest du mir denn an?« fragte sie und räkelte sich.
»Was du willst.«
Dann, nach kurzer Überlegung:
»... Nichts. Alles...«
»Okay. Das nehm ich.«

Er saß an der Wand, das Tablett auf den Knien, machte eine Flasche auf und hielt ihr ein Glas hin. Sie legte ihr Heft weg.
Sie prosteten sich zu.
»Auf die Zukunft.«
»Nein. Keinesfalls. Auf jetzt«, verbesserte sie ihn.
Autsch.
»Die Zukunft. Hm... Willst... willst du...«
Sie sah ihm fest in die Augen:
»Franck, mach mir keine Angst, wir werden uns doch jetzt nicht verlieben?«
Er tat, als hätte er sich verschluckt.
»Am, orrgl, argh. Bist du verrückt? Natürlich nicht!«
»Uff! Hast du mir einen Schrecken eingejagt. Wir zwei haben schon so viele Dummheiten gemacht.«
»Du sagst es. Wobei, eine mehr oder weniger...?«
»Och, warum nicht?«
»So?«
»Ja. Laß uns saufen, spazierengehen, Händchen halten, nimm mich zärtlich und laß mich über dich hinwegfegen, wenn du willst. Aber nicht verlieben. Bitte.«
»Gut, gut. Ist notiert.«

»Malst du mich?«
»Ja.«
»Wie malst du mich?«
»Wie ich dich sehe.«
»Seh ich gut aus?«
»Mir gefällst du.«
Er wischte seinen Teller mit Brot auf, stellte sein Glas ab und ließ die behördlichen Schikanen über sich ergehen.

Diesmal ließen sie sich Zeit, und nachdem sich jeder auf seine Seite gerollt hatte, gesättigt und am Rande des Abgrunds, wandte sich Franck an die Zimmerdecke:
»Ist gut, Camille, ich werde dich niemals lieben.«
»Danke, Franck. Ich auch nicht.«

Teil 5

1. Kapitel

Alles blieb beim alten, alles änderte sich. Franck verlor seinen Appetit, Camille bekam wieder Farbe. Paris wurde schöner, heller, fröhlicher. Die Menschen waren heiterer, der Asphalt elastischer. Alles schien in Reichweite, die Konturen der Welt waren klarer und die Welt leichter.
Mikroklima auf dem Champ-de-Mars? Erwärmung ihres Planeten? Einstweiliges Ende der Schwerelosigkeit? Nichts war mehr sinnig, nichts war mehr wichtig.
Sie pendelten vom Bett des einen zur Matratze der anderen, lagen wie auf Eiern, sagten sich Zärtlichkeiten und streichelten einander dabei den Rücken. Da sie sich voreinander nicht ausziehen wollten, waren sie etwas linkisch, etwas unbeholfen und bedeckten sich schamhaft mit dem Laken, bevor sie ihren Ausschweifungen nachgingen.
Neue Lehrzeit oder erste Bleistiftskizze? Sie waren aufmerksam und strengten sich im stillen an.

Pikou legte die Jacke ab, und Madame Perreira stellte die Blumentöpfe raus. Für die Wellensittiche war es noch zu früh.
»Klopf, klopf, klopf«, machte sie eines Morgens, »ich habe was für Sie.«
Der Brief war in Côtes-dÕArmor abgestempelt worden.

10. September 1889. Anführungsstriche. Was mir in der Kehle saß, ist im Begriff, sich aufzulösen, ich habe noch etwas Mühe beim Essen, aber allmählich geht es wieder besser. Abführungsstriche. Danke.
Als sie die Karte umdrehte, erkannte Camille Van Goghs fiebriges Gesicht.
Sie steckte sie in ihr Heft.

Der Monoprix hatte das Nachsehen. Dank der drei Bücher, die Philibert ihnen geschenkt hatte, Das verborgene, unbekannte Paris, 300 Pariser Fassaden für Neugierige und Die Pariser Teehäuser, kam frischer Wind auf, öffnete Camille die Augen und redete nicht mehr schlecht über ihr Viertel, in dem der Jugendstil unter freiem Himmel zu besichtigen war.
Von nun an kutschierten sie von den russischen Isbi am Boulevard Beauséjour zur Rue de la Mouzaïa am Park Buttes-Chaumont, kamen am Hôtel du Nord vorbei und dem Friedhof Saint-Vincent, wo sie mit Maurice Utrillo und Eugène Boudin auf dem Grab von Marcel Aymé picknickten.
Théophile Alexandre Steinlen, Maler, wunderschöne Darstellungen von Katzen und menschlichem Elend, ruht unter einem Baum im südöstlichen Teil des Friedhofs.
Camille legte den Reiseführer auf den Schoß und wiederholte:
Wunderschöne Darstellungen von Katzen und menschlichem Elend, ruht unter einem Baum im südöstlichen Teil des Friedhofs. Eine schöne Beschreibung, oder?
»Warum nimmst du mich immer mit zu den Toten?«
»Pardon?«
»...«
»Wohin möchten Sie denn gehen, liebe Paulette? In die Disco?«
»...«
»Hallo! Paulette?«
»Laß uns nach Hause gehen. Ich bin müde.«

Und auch dieses Mal endeten sie wieder in einem Taxi, dessen Fahrer wegen des Rollis eine Flappe zog.
Ein wahrer Idiotendetektor war das.
Sie war müde.
Wurde immer müder und immer schwerer.
Camille wollte es sich nicht eingestehen, aber sie mußte beständig auf sie einwirken und mit ihr kämpfen, um sie anziehen und füttern zu dürfen und zu einer Unterhaltung zu bewegen. Noch nicht mal zu einer Unterhaltung, zu einer Antwort. Der alte Dickschädel wollte nicht zum Arzt, und die junge Nachgiebige wollte sich nicht über ihren Willen hinwegsetzen, zum einen war es nicht ihre Art, zum anderen war es Francks Aufgabe, sie zu überzeugen.
Aber wenn sie in die Bibliothek gingen, vertiefte sie sich in medizinische Zeitschriften und Fachbücher und las deprimierendes Zeug über die Degeneration des Kleinhirns und andere Alzheimersche Unerfreulichkeiten.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.01.2006