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Sie haben mich wieder aufgepäppelt und mich hier untergebracht, im siebten Stock. Eine Woche später saß ich immer noch auf dem Boden und fragte mich, was ich jetzt wohl mal werden könnte... Alles, was ich wußte, war, daß ich im Leben nie mehr malen wollte. Ich war auch nicht bereit, in die Welt zurückzukehren. Die Leute machten mir angst... Also bin ich Raumpflegerin in Nachtarbeit geworden... So habe ich etwas über ein Jahr gelebt. In der Zwischenzeit habe ich meine Mutter wiedergefunden. Sie hat mir keine Fragen gestellt... Ich habe nie herausgefunden, ob es Gleichgültigkeit oder Zurückhaltung war... Ich habe nicht nachgehakt, das konnte ich mir nicht erlauben: Ich hatte nur noch sie...
Welche Ironie? Ich hatte alles drangesetzt, um ihr zu entkommen, und jetzt... Zum Ausgangspunkt zurück, abzüglich der Träume. Ich bin dahinvegetiert, habe mir untersagt, allein zu trinken, und habe einen Ausweg aus meinen zehn Quadratmetern gesucht. Und dann bin ich zu Winteranfang krank geworden, und Philibert hat mich die Treppe runtergetragen in das Zimmer hier nebenan. Den Fortgang der Geschichte kennst du.«
Lange Stille.
»Tja«, wiederholte Franck mehrmals. »Tja.«
Er hatte sich aufgerichtet und die Arme verschränkt.
»Tja. Was für ein Leben? Verrückt. Und jetzt? Was machst du jetzt?«
»...«

Sie schlief. Er deckte sie bis zur Nasenspitze zu, nahm seine Sachen und ging auf Zehenspitzen hinaus. Jetzt, wo er sie kannte, wagte er nicht mehr, sich neben sie zu legen. Außerdem nahm sie den ganzen Raum ein.

Den ganzen Raum.

18. Kapitel

Er fühlte sich verloren.
Er irrte einen Moment durch die Wohnung, ging Richtung Küche, machte die Schranktüren auf und kopfschüttelnd wieder zu.
Das Salatherz auf dem Fensterbrett war ganz verschrumpelt. Er warf es in den Müll, nahm einen Stift und setzte sich hin, um seine Zeichnung zu beenden. Er zögerte bei den Augen. Sollte er zwei schwarze Punkte am Ende der Fühler malen oder eins darunter?
Verflucht! Sogar bei Schnecken war er eine Niete!
Okay, eins. Das sah niedlicher aus.

Er zog sich an. Schob auf Zehenspitzen sein Motorrad an der Pförtnerloge vorbei. Pikou sah ihn vorbeigehen, ohne Alarm zu schlagen. Gut so, Freundchen, gut so. Im Sommer kriegst du einen kleinen Lacoste, damit kannst du die Pekinesinnen verführen. Er ging noch ein paar Meter weiter, bevor er das Motorrad anließ, und stürzte sich in die Nacht.

Er bog die erste Straße nach links ab und fuhr immer geradeaus. Am Meer angekommen, legte er seinen Helm auf den Bauch und betrachtete die Manöver der Fischer. Er nutzte die Gelegenheit, um zwei, drei Worte mit seinem Motorrad zu wechseln. Damit es die Situation ein wenig verstand.
Leichter Drang, sich gehenzulassen.
Zuviel Wind vielleicht?

Er schnaubte.
Genau! Das hatte er vorhin gesucht: einen Kaffeefilter! Seine Gedanken sortierten sich wieder. Daraufhin lief er am Hafen entlang bis zur ersten offenen Kneipe und trank inmitten glänzender Friesennerze seine schwarze Brühe. Als er aufsah, erblickte er im Spiegel einen alten Bekannten:
»Na? Auch hier?«
»Tja.«
»Was machst du so?«
»Ich trinke Kaffee.«
»Mein Gott, siehst du fertig aus.«
»Müde.«
»Immer noch hinter den Rockzipfeln her?«
»Nein.«
»Komm schon. Du warst doch wohl heut nacht mit einem Mädchen zusammen?«
»Das war eigentlich kein Mädchen.«
»Was dann?«
»Keine Ahnung.«
»He ho, Alter! Chefin! Spülen Sie mal seine Tasse aus, mein Kumpel schuppt sich gerade.«
»Nee, nee. Laß.«
»Was denn?«
»Alles.«
»Mensch, was hast du denn, Lestaf?«
»Herzschmerz.«
»Oooh, bist du verliebt?«
»Gut möglich.«
»He Mann! Das sind ja Neuigkeiten! Frohlocke, Alter! Frohlocke! Auf die Theke mit dir! Sing uns ein Ständchen!«
»Hör auf.«
»Was hast du denn?«
»Nichts. Dies... Diesmal ist es eine richtig Gute. Zu gut für mich jedenfalls.«
»Was denn. So ein Blödsinn! Niemand ist zu gut für niemand. Schon gar nicht die Miezen!«
»Sie ist keine Mieze, hab ich gesagt.«
»Ein Typ?!«
»Unsinn.«
»Ein Androide? Lara Croft vielleicht?«
»Besser.«
»Besser als Lara Croft? Wow! Also mit gigantischem Vorbau?«
»75 A, würd ich sagen.«
Er lächelte:
»Wenn du in ein Brett verknallt bist, hast duÕs schlecht getroffen, jetzt kapier ichÕs.«
»Nix da, nix kapierst du!« regte er sich auf. »Sowieso hast du überhaupt noch nie was kapiert! Du reißt nur immer die Klappe auf, damit keiner merkt, daß du nix kapierst! Damit gehst du bloß allen schon immer auf den Zeiger! Du tust mir leid. Wenn sie mit mir spricht, versteh ich die Hälfte der Wörter nicht, klar? Neben ihr komm ich mir ganz mickrig vor. Wenn du wüßtest, was sie schon alles durchgemacht hat. Scheiße, ich bringÕs nicht. Ich glaub, ich laß es lieber.«
Sein Kumpel war beleidigt.
»Was denn?« brummte Franck.
»Zu garstig.«
»Ich hab mich verändert.«
»Ach was. Du bist nur müde.«
»Ich bin seit zwanzig Jahren müde.«
»Was hat sie durchgemacht?«
»Nur Scheiße.«
»Das ist doch perfekt! Brauchst du ihr nur was andres zu bieten!«
»Was denn?«
»He! Machst du das extra oder was?«
»Nein.«
»Doch. Du machst das extra, damit ich Mitleid hab. Denk doch mal nach. Ich bin sicher, du kommst drauf.«
»Ich hab Angst.«
»Gutes Zeichen.«
»Ja, aber wenn ich mich...«
Die Wirtin räkelte sich.
»Meine Herren, das Brot ist da. Wer will ein Sandwich? Der junge Mann?«
»Danke, es geht auch ohne.«
Ja, es würde auch ohne gehen.
Gegen die Wand oder sonstwohin.
Wir werden sehen.

Der Markt wurde gerade aufgebaut. Franck kaufte Blumen von einem Lastwagen herunter, hast duÕs passend, Junge? und drückte sie in seiner Jacke platt.

Blumen waren kein schlechter Anfang, oder?
Hast duÕs passend, Junge? Und ob, Alte! Und ob!

Und zum ersten Mal in seinem Leben fuhr er bei Sonnenaufgang Richtung Paris.

Philibert duschte gerade. Er brachte Paulette das Frühstück und drückte ihr seinen Stoppelbart auf die Hängebäckchen:
»Na, Omi, gehtÕs dir nicht gut?«
»Du bist ja völlig durchgefroren? Wo kommst du denn her?«
»Och«, sagte er und richtete sich auf.

Sein Pulli stank nach Mimosen. In Ermangelung einer Vase schnitt er mit dem Brotmesser eine Plastikflasche zurecht.
»He, Philou?«
»Sekunde, ich dosiere gerade mein Nesquick. Stellst du uns noch eine Einkaufsliste zusammen?«
»Ja. Wie schreibt man noch mal Riwjera?«
»Mit v und zwei i.«
»Danke.«
Mimosen wie an der Riwjera ... Riviera. Er faltete seine Nachricht und plazierte sie mitsamt Vase neben der Schnecke.

Er rasierte sich.
»Wo waren wir noch mal?« fragte der andere, von neuem im Spiegel.
»Schon gut. Ich krieg das irgendwie hin.«
»Na gut... dann viel Glück !«

Franck verzog das Gesicht.
Wegen des After-shaves.

Er kam zehn Minuten zu spät, die Versammlung hatte bereits begonnen.
»Da ist ja unser Charmeur«, verkündete der Chef.
Lächelnd nahm er Platz.

20. Kapitel

Als sie aufstand, um nach Paulette zu schauen, trat Camille auf seinen Wecker und zog den Stecker. Niemand wagte ihn zu wecken. Weder die zerstreute Hausgemeinschaft noch sein Chef, der ohne zu murren seinen Posten einnahm.
Was mußte er leiden, der Arme.

Um zwei Uhr nachts kam er aus seinem Zimmer und klopfte an die hinterste Tür.
Er kniete sich neben ihre Matratze.
Sie las.

»Hm... Hm.«
Sie senkte die Zeitung, hob den Kopf und tat erstaunt:
»Ja, bitte?«
»Tja, Herr Wachtmeister, ich... ich möchte Anzeige erstatten.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.01.2006