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Wenn Tabletten nicht helfen

Angebot im Evangelischen Gemeindedienst bei Medikamentensucht

Bielefeld (WB). Christina P. (Name geändert) ist schüchtern und zurückhaltend. Eine sympathische Frau, die niemandem Probleme machen will, doch irgendwann wurden ihr selbst die Probleme zu viel: Druck im Beruf, eine schmerzhafte Trennung, eine schwere Erkrankung. Christina P. (49) fing an, täglich Tabletten zu nehmen, 17 Jahre lang, immer ein bisschen mehr - bis sie den Mut fand, Hilfe zu suchen.

Die fand sie beim Ev. Gemeindedienst im Evangelischen Johanneswerk, wo sie seit sechs Monaten betreut wird. Die Sucht-Karriere von Christina P. ist typisch, bestätigt Diplom-Psychologe Ulrich Oppel. »Gerade Frauen greifen oft zu Medikamenten“, erklärt er weiter. »Anders als Alkohol verursachen Pillen keine Fahne oder aggressives Verhalten.“ Die Frauen können unbemerkt weiter ihrem Alltag nachkommen, sind angepasst und unauffällig.
Medikamentenabhängigkeit ist eine unsichtbare und daher meist unentdeckte Sucht. Die Betroffenen können über Jahre Tabletten nehmen, ohne dass ihr Umfeld etwas bemerkt. Daher nehmen nur wenige Medikamentabhängige ihre Sucht als Problem wahr und suchen Hilfe. Nach Schätzungen sind in Deutschland genauso viele Menschen abhängig von Medikamenten wie von Alkohol (jeweils rund 1,7 Millionen). Doch nur 2000 Menschen lassen sich jährlich behandeln, um von den Medikamenten loszukommen. Im Vergleich dazu begeben sich 163000 Alkoholiker jedes Jahr in Therapie.
Sogar der Ärztin von Christina P. fiel jahrelang nichts auf. Die ehemalige Kassiererin Christina P. nahm einen Cocktail aus Beruhigungs- und Schmerztabletten. Nach und nach erhöhte sie die Dosis, weil ihr Körper immer weniger auf die Medikamente reagierte. Um den steigenden Konsum zu verstecken, wechselte sie häufiger die Ärzte, ließ sich einmal von ihrem Hausarzt und dann wieder von ihrer Neurologin Medikamente verschreiben.
Ohne Tabletten ging es ihr schlecht, sie bekam Angstzustände und Schlafbeschwerden. Mit Medikamenten jedoch hatte sie das Gefühl »alles mit einem Lächeln überstehen zu können“. Probleme ließen sich wegschlucken, sie wurde gelassener, aber auch gleichgültiger. So gleichgültig, dass es ihr egal war, als sich 18000 Euro Schulden auf ihrem Konto ansammelten, oder dass sie zwei Abmahnungen von ihrem Chef bekam.
Am Ende zog Christina P. selbst die Notbremse. Nach zwei Zusammenbrüchen ließ sie sich in eine Klinik zum Entzug einliefern. Die Klinikärzte vermittelten sie weiter an den Ev. Gemeindedienst. Mit den dortigen Therapeuten, aber auch mit anderen Süchtigen zu sprechen, hat ihr geholfen, offener zu werden und sich ihren Problemen zu stellen. Noch steht Christina P. am Anfang eines längeren Weges zurück in ein Leben, das sie selbst bestimmt - nicht ihre Tabletten. Ihre Träume sind kleiner und bescheidener geworden: körperlich so gesund werden, dass sie vielleicht bald ganz auf die Schmerztabletten verzichten und wieder arbeiten kann, ihre Enkelkinder aufwachsen zu sehen und die Schulden abzubezahlen. Die Therapeuten und die Schuldnerberatung im Ev. Gemeindedienst werden sie dabei unterstützen.
Zukünftig soll das Angebot des Ev. Gemeindedienstes bei Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit noch ausgedehnt werden. Jeden Donnerstag wird von 10.30 bis 12 Uhr eine Informations- und Gesprächsgruppe angeboten. Weitere Informationen bei Ulrich Oppel, Tel.: 801-2747.

Artikel vom 30.12.2005