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Die Unterbrechung des Alltags

Silvesterandacht von Alfred Buß, Präses der Westfälischen Landeskirche

Alfred Buß, Präses der Westfälischen evangelischen Landeskirche.

Liebe Leserin und lieber Leser,

Endlich einmal zur Ruhe kommen. Aber die Tage sind voll bis an den Rand. Die Vorweihnachtszeit beginnt hierzulande schon im September. Kaufleute sagen, die Kunden wollen es so. Kunden fühlen sich genötigt zu kaufen, weil es angeboten wird. So drehtĂ•s sich im Kreis. Dabei ist Advent im Dezember. Ein fester Rhythmus gehört zum Leben der Menschen. Alles hat seine Zeit. Es tut gut, mit festen Zeiten zu leben. Sie geben Zeit zum Aufatmen. Sie geben der Seele Raum zum Innehalten und Entspannen. Aber der eigentlich zur Stille einladende Advent ist voller Trubel. Ein paar Tage dann zum Atemholen, bevor der Jahreswechsel richtig gefeiert werden will.
Es ist schon äußerlich viel los. Und was verbinden wir nicht alles innerlich mit dieser Zeit. Unsere Sehnsucht nach Leben, Harmonie, Glück und Frieden legen wir hinein, unsere sonst eher zurückhaltende Emotionalität wird jetzt hautnah spürbar. Und dann begegnen wir auch noch Rückblicken. Das vergangene Jahr wird aufgerollt, die Augenblicke des Glücks und Erfolgs kommen noch einmal vor Augen, bedrohlichem Scheitern und Katastrophen spüren wir noch einmal nach.
Auf der Schwelle zum neuen Jahr liegt uns allerhand auf den Schultern. Das, was war, wirkt hinein in das, was kommen wird; es prägt uns bereits, obwohl es noch gar nicht da ist. Die Zukunft ist unverfügbar. Darin liegt ihr Wesen. Was wir selber regeln können, gibt uns noch ein Gefühl von Beherrschbarkeit. Unverfügbares aber macht Angst. Vielleicht machen wir zu Silvester auch deshalb so viel Krach, damit niemand unser ängstliches Pfeifen im Wald hört.
Übergänge, Schwellen im Leben sind wichtig. Geburtstage werden gefeiert, Jubiläen begangen, der Jahreswechsel wird inszeniert. Das ist gut. Wir brauchen diese Unterbrechungen des Alltags, brauchen diese Augenblicke konzentrierten Hörens und Sehens - nach hinten und nach vorn. Übergänge wie ein Jahreswechsel machen uns klar, dass wir unterwegs sind und uns verändern. Sie fordern immer wieder, Altes loszulassen und Neues zu empfangen.
Das kann schwer sein, es löst oft genug Angst aus, es kann uns lähmen. Dann ist es hilfreich, das nicht mit sich allein auszumachen. Es tut dann gut, das Gespräch zu suchen, mit Freunden, Partnern oder Partnerinnen, mit den Kindern oder den Eltern. Tiefer noch kann das Gespräch mit Gott sein. Beten, also Gott alles sagen, was belastet, was freut oder bedrängt. Und auf sein Wort lauschen. Unter den vielen Worten zum Jahreswechsel sein Wort heraushören.
Zahlreiche Gottesdienste zum Altjahresabend und zu Neujahr laden dazu ein. Und häufig wird die Jahreslosung 2006 im Mittelpunkt stehen:
Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. (Jos. 1, 5b)
Diese Zusage Gottes kommt aus der Geschichte Israels. Josua soll als Nachfolger des Mose nach Jahren in der Wüste nun die Zukunft des Volk mitgestalten. Mit dieser Last auf den Schultern steht er am Ufer des Jordan. Ein Flüsschen nur. Aber ein entscheidender Übergang. Josuas Sorgen dürften nicht gerade gering gewesen sein.
Das Josuabuch erzählt allerdings nichts davon, dass er seine Angst weggepfiffen hätte. Er bekommt vielmehr Kraft aus der Erinnerung. Josua blickt zurück, erinnert sich - an die alten Verheißungen, an die Erfahrungen der Mütter und Väter, schaut, worauf Verlass war und worauf nicht. Sich Erinnern bedeutet nicht, rückwärts in die Zukunft zu gehen. Er-Innerung holt das Gestern ins Heute, damit die Kraft wächst, aus dem Heute ins Morgen zu gehen - über den Jordan - über die Schwelle hinweg ins neue Jahr.
Aber erst mal ist es wichtig, an solcher Schwelle still zu stehen, inne zu halten. Wie Josua alle Sinne für Gott zu öffnen. Und der Zusage Gottes zu lauschen, sie dann vielleicht einfach ein paar Mal laut zu sprechen: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Diese Zusage weist in einen Perspektivwechsel. Gott sagt nicht: du kannst dich auf dies und das verlassen. Er sagt vielmehr: Ich verlasse dich nicht! Ich lasse dich nicht fallen. Das ist der entscheidende Wechsel der Blickrichtung: Gott selber schaut und spricht uns an. Gott handelt zuerst an mir, damit ich mit ihm, für ihn und durch ihn handeln kann. Ich bin nicht verlassen. Wo diese Zusage trägt, kann ich mich selber verlassen: meine Schwellenängste, meine eingefleischten Handlungsmuster und meine eingefahrenen Gleise. Es klingt paradox: Weil ich nicht fallen gelassen werde, kann ich mich fallen lassen. Das ist der Kern aller Erlösung: Gott befreit mich zum ungesicherten Vertrauen.
Und darum muss uns das Alte nicht festhalten und das Neue nicht erschrecken. Wir können in das neue Land gehen, über den Jahreswechsel in das neue Jahr, denn wir werden die Erfahrung machen: Gott ist schon da.

Artikel vom 31.12.2005