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Der freundliche Schutzmann Wenzel Kratochvil

Franz Klement erzählt ein Wintermärchen aus dem böhmisch-mährischen Iglau Anfang der 30er Jahre


Kalt war es am Heiligen Abend des Jahres 1930 in Iglau, der alten Stadt auf der Böhmisch-Mährischen Höhe. Weder die Menschen in Iglau noch die in den Dörfern führten wieder ein normales Leben wie vor dem Krieg. Das Habsburger Kaiserreich gab es nicht mehr. Die Stadt und die Mehrzahl der von Deutschen bewohnten Sprachinseldörfern gehörten jetzt zur ersten Tschechoslowakischen Republik. Europa, ja fast die ganze Welt, stürzte in eine Wirtschaftskrise, die auch eine Inflation nach sich zog.
Die Folge davon - Arbeitslosigkeit, Hunger, Krankheiten, Verzweiflung und keine Hoffnung, dass sich dieses in absehbarer Zeit verändern werde - machte die Deutschen, Tschechen und Juden mutlos, veränderte ihr Verhalten bis hinein in die Familien.
In den Nachbarländern, Deutschland, Österreich, Polen und Ungarn war es nicht anders. Die Regierung des neuen Staates war überfordert. Immer, wenn es so ist, wenden sich die Menschen den Religionen, den Kirchen zu. Nicht anders erlebten wir Zeitgenossen das auch nach dem zweiten Weltkrieg in den Jahren 1945/46.
So ist es verständlich, dass die christlich Gläubigen in Iglau im Jahre 1930 trotz der eisigen Kälte und des vielen Schnees die Mitternachtsmesse in der St. Ignatz Kirche auf dem großen Hauptplatz, der damals jedoch schon Masaryk Platz (nach dem ersten tschechoslowakischen Präsidenten Thomas Garrigue Masaryk) hieß, besuchten.
Im Eingang der Kirche stellte Jakob, der Kirchendiener, schon am Vormittag des Heiligen Abends große eiserne Körbe auf und füllte sie mit Koks. Dabei halfen ihm stets freiwillige Helfer. Die schweren eichenen Kirchentüren blieben bis zum Beginn der Mitternachtsmesse geschlossen. Die Besucher das Gottesdienstes empfing eine wohltuende Wärme, die von dem rot glühenden Koks in den Körben ausstrahlte. Jakob passte gut auf, dass sich niemand zu nahe an die Körbe heranwagte. Er war auch so fürsorglich, in der Nähe der Körbe Stühle aufzustellen, die er für alte Menschen oder Mütter mit kleinen Kindern bereit hielt.
In seiner Predigt verglich der Pfarrer die Wärme das Stalles in Bethlehem mit der in der Kirche von St. Ignatz und dankte Jakob und seinen Helfern für ihre mühevolle Arbeit.
Ob es an der wohltuenden Wärme in der Kirche lag, dass die Messe länger dauerte als sonst und der Pfarrer länger als üblich predigte, damit sich die Menschen erst noch richtig aufwärmen konnten bevor sie wieder den Heimweg antraten? Solche Gedanken gingen dem vor der Kirche auf und ab patrouillierenden tschechischen Polizisten durch den Kopf. Gerne hätte auch er sich an einem der Koks-Körbe in der Kirche aufgewärmt. Nötig gehabt hätte er es, doch seine Dienstpflicht erlaubte das nicht. Er hatte den Ein- und Ausgang zur Kirche zu überwachen.
»Pan Brambor« (deutsch: Herr Erdapfel), so nannten ihn die deutschen Jugendlichen, um ihn zu ärgern, wenn er für Ordnung auf dem Bummel, der auf dem Hauptplatz an den Wochenenden stattfand, sorgte. Es kam wohl daher, dass er eine für seinen Kopf viel zu große Nase hatte.
Wenzel Kratochvil, so hieß der tschechische Ordnungshüter mit seinem bürgerlichen Namen, kam aus dem von Iglau nicht weit entfernten Ort Humpoletz. Sein Vater war ein Tscheche. Er war im Krieg gefallen. Seine Mutter kam aus der deutschen Familie Schwarzjirk, aus dem nicht weit von Humpoletz entfernten Dorf Schrittenz.
Wenzel Kratochvil hatte, wie schon so manches Mal, freiwillig den Dienst in der Weihnachtsnacht übernommen. Er liebte es, die vielen Menschen zu sehen, die aus allen Gassen auf den mit Schnee bedeckten Hauptplatz zur St. Ignatz Kirche kamen, um dort die Mitternachtsmesse zu besuchen. Er liebte es, die Glocken in den beiden Türmen der Kirche zu hören, wie sie nur an den großen Feiertagen zu hören waren. Es freute ihn immer, wenn er von den freundlich gestimmten Menschen gegrüßt wurde und sie ihm ein frohes Weihnachtsfest wünschten.
Dieses Jahr gab es schon zu Weihnachten strengen Frost. Jakob, der Kirchendiener von St. Ignaz, zögerte mit dem Öffnen der beiden schweren Kirchentüren, obwohl der Pfarrer seine Predigt bereits beendet hatte und ihm durch ein Zeichen zu verstehen gab, dass er die Gläubigen mit seinem Segen nach Hause schicken möchte.
Jakob hielt sich an die Menschen in der Kirche, die noch ein weiteres Lied anstimmten, obwohl die Glocken bereits begannen, die Heilige Nacht einzuläuten. Nur die Buben drängten sich zum Ausgang, und als Jakob jetzt die Tore öffnete, waren sie die ersten, die nach draußen stürmten. Der große Platz war in das fahle Licht der wenigen Gaslaternen getaucht. Es hatte während der Heiligen Messe geschneit. Die Jungen formten Schneebälle begannen eine Schneeballschlacht. Dabei hatten sie es, wie immer, besonders auf die Mädchen abgesehen. Es bildeten sich schnell zwei Parteien, denn nicht alle zielten gerade auf das Mädchen, welches sie gerne mochten.
Wenzel Kratochvil wusste, was es in der nächsten halben Stunde vor der Kirche geben würde. Immer waren auch solche jungen Menschen darunter, die es wagten, einen rechtschaffenen Schutzmann zu provozieren, indem sie auch ihn mit einem Schneeball treffen wollten. Wenzel Kratochvil wusste aber, wie man dem aus dem Weg gehen kann. Gleich neben der Kirche gab es ein kleines schmales Gässchen, die Tiefe Gasse, in der sich auch die Polizeiwache befand.
Kann sein, dass es daran lag, jedenfalls wurde sie von den meisten Menschen nur sehr wenig in der Nacht benutzt. Obwohl es auch einen Seitenausgang der Kirche gab, der direkt in die Tiefe Gasse führte, kamen nur sehr wenige Besucher von dort auf den großen Platz.
An diesen Ort begab sich Wenzel Kratochvil und blieb so lange, bis die letzten Besucher die Kirche verlassen hatten. Die Schneeballschlacht der jungen Leute war da aber schon lange vorbei. Sie kam dieses Mal nicht so richtig in Gang, mag sein, weil es viel zu kalt war und auch, weil es erneut heftig zu schneien begann. Bald schon zeigten auch zahlreichen Fußspuren, dass die Kirchenbesucher den Hauptplatz verlassen hatten und nach Hause gegangen waren.
Einige Männer halfen dem Kirchendiener Jakob beim Auslöschen der Glut in den eisernen Körben, in dem sie einfach Schnee auf den noch glühenden Koks warfen. Schnell waren auch sie verschwunden. Jakob, der ein Tscheche war, wünschte Wenzel Kratochvil noch frohe Weihnachten in tschechischer Sprache (»Vesely Vanoce«). Laut fielen die schweren Kirchentüren ins Schloss. Auf dem Hauptplatz kehrte vollkommene Stille ein.
Der Kerzenschein, der aus einigen Fenstern der Häuser zu sehen war, ließ erkennen, dass die Iglauer wohl noch bei einer Tasse Tee in gemütlicher Weihnachtsstimmung beisammen saßen. Wer von ihnen hatte dabei wohl daran gedacht, dass draußen, in eisiger Kälte Wenzel Kratochvil noch eine Stunde lang seinen Wachdienst ausüben musste? Er war Junggeselle und lebte bei seiner alten Mutter. Er war freundlich, gutmütig und hilfsbereit. Das hatte ihn in Iglau bei den Menschen beliebt gemacht. Auch die Jungen wussten das. Nicht mit allen Polizeibeamten konnten sie so umgehen wie mit Wenzel Kratochvil.
Wenzel Kratochvil entschloss sich, noch einmal den großen Hauptplatz zu umrunden. Das wird wohl eine Stunde dauern und dann werde ich abgelöst, dachte er. Es hatte aufgehört zu schneien, Sterne erschienen am dunkeln Himmel und der Schnee knirschte unter jedem seiner Schritte.
Was hatte dieser große Platz nicht alles schon erlebt? Den 30-jährigen Krieg, die Gegenreformation, die Meistersinger in ihrer Singschule, die sie vor dem Rathaus abhielten, Jahrmärkte, vier davon in einem Jahr, und immer wieder Soldaten, Soldaten aus so vielen europäischen Ländern. Trotz all dem, der Hauptplatz hat alles überstanden. Wenzel Kratochvil konnte damals noch nicht wissen, dass einige Jahre später deutsche Soldaten von diesem Platz aus in den Krieg ziehen würden, dass es keine tschechische Polizeiwache mehr in der Tiefen Gasse geben würde und auch er kein Schutzmann mehr wäre.
Wenzel Kratochvil nahm seinen Weg zum unteren Teil des Hauptplatzes am Kretzel - einem Häuserblock, der sich in der Mitte des Platzes befand, den es heute aber nicht mehr gibt. Er musste nach dem Zweiten Weltkrieg einem architektonisch und städtebaulich uninteressanten Kaufhaus weichen. Auch der kleine Park, mit seinen Schatten spendenden Bäumen, den die Iglauer liebevoll »Pintscherl Park« nannten, weil die Dienstmädchen dort die kleinen Hunde ihrer Herrschaft ausführten, fiel diesem Ungetüm von Kaufhaus zum Opfer.
Wenzel Kratochvil liebte, wie wohl alle Iglauer, das Kretzel. Es legte Zeugnis davon ab, dass hier vor vielen Jahrhunderten reiche Patrizier den Wohlstand dieser Stadt offen und jedermann zeigten. Er war stolz darauf als tschechischer Wachmann hier mit seiner Mutter unter den Deutschen, deren Sprache er verstand und sprach, leben zu können. Er war das auch, als Iglau noch zur alten K. u. K. Habsburger Monarchie gehörte. Iglau und die Böhmisch-Mährische Höhe waren seine Heimat.
Nun aber unterbrach er diese Gedanken. Er war an der Endhaltestelle der Elektrischen Straßenbahn angekommen. Dort befand sich ein kleines Wartehäuschen. Niemals hatte er bei der Streife versäumt, dieses etwas genauer zu kontrollieren. Wozu hatte er denn seine große Taschenlampe, mit der er jede Ecke ausleuchten konnte? Immer wieder konnte er dort Männer antreffen, die auf den Bänken übernachteten, weil sie kein Zuhause hatten oder dort ihren Rausch ausschliefen und auf die erste Straßenbahn warteten, mit der sie zum Bahnhof fuhren und in die Dörfer, wo sie wohnten, zurückkehrten.
Nicht vergessen hatte er, dass er vor einigen Jahren dort ein zehnjähriges deutsches Mädchen antraf, welches aus dem Waisenhaus weglief, um ihre kranke Mutter, die sich in dem nahen Ort Polna im Krankenhaus befand, zu besuchen. Paula, so hieß das Mädchen, wartete dort auf die erste Straßenbahn die sie zum Bahnhof bringen sollte. Er brachte das Kind zu sich nach Hause und gab sie in die Obhut seiner Mutter. Paula konnte so lange bei ihr bleiben, bis ihre eigene Mama aus dem Krankenhaus entlassen wurde.
Wenzel Kratochvil leuchtete mit seiner Taschenlampe, wie immer, erst einmal von draußen in das Häuschen, welches keine Türen hatte. Manchmal reichte es aus, dass der dort Ruhende aufstand und schnell das Weite suchte. Heute war das nicht so. In der Heiligen Nacht hatte wohl jeder in Iglau eine Unterkunft gefunden.
Gedanken von Bethlehem gingen Wenzel Kratochvil durch den Kopf. Wie weit war Bethlehem von Iglau entfernt? In der Minoriten- und in der Jakobuskirche waren jedes Jahr zu Weihnachten Krippen aufgebaut und manche der Figuren trugen Iglauer Bauernkleidung.
Wenzel Kratochvil war ein gläubiger Christ. Gerne übernahm er am Heilgen Abend den Dienst. Er liebte es, die Susana-Glocke vom Turm der Jakobskirche und die Glocken von St. Ignatz aus der Nähe zu hören, die vielen Menschen zu sehen, für die Weihnachten mit einer Mitternachtsmesse verbunden ist und es keinen Unterschied zwischen den tschechischen und deutschen Bürgern dieser Stadt gab.
Er liebte es aber auch, die Stille der Heiligen Nacht auf dem großen Platz zu erleben und sich in Gedanken zu verlieren, die Iglau mit dem Geschehen in Bethlehem verbinden. . .

Artikel vom 30.12.2005